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Postkarten

Titel: Postkarten
Autoren: Annie Proulx
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daß extra was aufgehoben wird.«
    »Das tu’ ich nicht«, erwiderte Mernelle und zwinkerte nervös. Ihre Zöpfe waren mit Gummis zu Affenschaukeln gebunden, und es tat weh, wenn sie sie abends aufdröselte; die Zähne waren zu groß für ihr Gesicht. Sie hatte die Hände ihrer Familie mit den krummen Fingern und den flachen Nägeln. Sie hatte Minks geduckte Haltung.
    »Dich hat keiner gefragt, junges Fräulein. Verdienst kaum ein paar Groschen mit deinen Seidenpflanzensamen und mußt gleich überall deinen Senf dazugeben. Wie Geld einen Menschen verändern kann. Bin bloß froh, daß ich keins hab’, das mich verdirbt.«
    »Es geht doch nicht nur um die Seidenpflanzensamen«, sagte Mernelle großspurig. »Die Woche gibt’s drei große Dinger. Für die Seidenpflanzen hab’ ich sechs Dollar bekommen, ich hab’ einen Brief von Sergeant Frederick Hale Bottum aus Neuguinea gekriegt, weil er meinen Zettel zu den Zigaretten von der Sonntagsschule gelesen hat, und unsere Klasse sieht sich die Gummiausstellung in Barton an. Am Freitag.«
    »Wie viele Samen hast du für die sechs Dollar gesammelt?« Mink zog seine Stallkappe ab und hängte sie an die Ecke der Stuhllehne. Eine Haarsträhne hing ihm ins Gesicht, und er warf den Kopf immer wieder nach links, um sie loszuwerden.
    »Hunderte. Tausende. Dreißig Säcke voll. Und stell dir vor, Dad, ein paar von den Kindern haben Seidenpflanzen abgeliefert, die noch grün waren, und denen haben sie pro Sack bloß zehn Cent gegeben. Ich lass’ meine erst oben auf dem Heuboden richtig trocknen. Der einzige, der mehr gepflückt hat wie ich, war ein alter Mann aus Topunder. Zweiundsiebzig Säcke voll, aber der hat auch nicht in die Schule müssen. Der konnte den ganzen lieben Tag lang nichts anderes tun wie Seidenpflanzen sammeln.«
    »Ich hab’ mich schon gewundert, was die ganzen Seidenpflanzensamen da oben sollten. Erst hab’ ich gedacht, Loyal hat’ne Idee für billiges Viehfutter. Dann hab’ ich gedacht, es wird’ne Art Dekoration.«
    »Aber Dad, aus Seidenpflanzen macht man doch keine Dekoration!«
    »Von wegen. Seidenpflanzensamen, Kiefernzapfen, Spulen, Puffmais, Apfel,’n bißchen Farbe drauf, und fertig. Ich hab’ schon Frauen und Mädchen erlebt, die haben mit Kreppapier und Giftsumach aus’nem verdammten Heurechen’ne Dekoration gemacht.«
    Die Tür ging ein paar Zentimeter auf, und Dubs rotes, breitwangiges Gesicht tauchte auf. Im Dickicht seines Lokkenschopfs machte sich eine kahle Stelle bemerkbar wie eine Lichtung im Wald. Er tat, als würde er schuldbewußt in die Runde schauen. Als seine Augen denen Jewells begegneten, verzog er in gespielter Furcht den Mund und schob sich mit über das Gesicht gehaltenem Arm ins Zimmer, als wollte er Schläge abwehren. Seine Schenkel waren plump; er hatte den scherenartigen Gang des Kleingewachsenen. Er wußte, daß er der Familienkasper war.
    »Hau mich nicht, Ma, ich komm’ nie wieder zu spät. Diesmal kann ich nichts dafür. Mensch, ich hab’ mit’nem Kerl geredet, der hat gesagt, sein Onkel war einer von denen, die oben am Kamelhöcker waren, als der Bomber runterkam; er hat nach Überlebenden gesucht.«
    »Um Himmels willen«, sagte Jewell.
    Dub drehte seinen Stuhl um und setzte sich rittlings darauf, den gesunden Arm über der Rückenlehne, während der leere linke Ärmel, der sonst in der Jackentasche steckte, herunterbaumelte. Hinter seinem rechten Ohr lugte eine Camel hervor. Einen Augenblick lang erinnerte Jewell sich daran, wie stattlich seine Unterarme gewesen waren; die schwellenden Muskeln und die Männeradern wie schönes, festes Astholz. Mink schnitt eine Scheibe Schinken in Stücke, die er auf Dubs Teller schrappte.
    Loyal kam es vor, als kippte die Küche nach außen wie ein perspektivisches Bild; die Maserung des Schinkens, die zwei Grüntöne der Efeutapete, die mit Draht zusammengebundenen, über dem Herd zum Trocknen aufgehängten Puffmaiskolben, das Wort COMFORT auf der Herdklappe, Jewells an die Wand genagelte alte Handtasche, in der Rechnungen und Briefe aufbewahrt wurden, die Bleistiftstummel in der Gewürzdose, die an einer Schlaufe von einem Nagel hing, Mernelles an die Speisekammer geheftete Zeichnung einer Flagge, der gläserne Türknauf, der Haken und die Öse aus Messing, die durchhängende Schnur mit dem verfleckten Kretonnestoff vor dem Hohlraum unter dem Spülstein, die feuchten Fußspuren auf dem Linoleum - alles war zweidimensional und deutlich und entschwand zugleich wie
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