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Post von Madelaine

Post von Madelaine

Titel: Post von Madelaine
Autoren: Susanna Ernst
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ungewöhnlich energisch um die Wände des kleinen Backsteinhauses und ließ seine Bewohner, Madame und Monsieur Duprais, im selben Moment aufblicken. Ein schmerzliches Lächeln zuckte um den Mund der jungen Frau. Das Pfeifen des Windes erschien ihr immer in einem grellen Türkis.
Sie stand am Spülbecken und blickte gedankenverloren aus dem Fenster, in den trüben Himmel. Es war ein Tag wie dieser, dachte sie - wohl zum hundertsten Mal.
Und wie immer ließ der Gedanke die Bilder einer schrecklichen Erinnerung aufflackern. Verschwommen und erschreckend deutlich zugleich.
»Ein Mädchen!«, hatte die Hebamme gesagt. Dann warf sie Sophies Mutter einen tiefen Blick zu, an den sich die junge Frau bis heute erinnerte. In diesem Moment, noch bevor sie die Worte »Sie atmet nicht richtig!« hörte, hatte Sophie gewusst, dass etwas nicht stimmte. Die Hebamme stürmte aus dem Raum, ihre Mutter folgte.
Sophie blieb zitternd und allein zurück. Kurz darauf erfuhr sie schreckliche Gewissheit. »Das Kind ist tot.«
Die junge Frau wandte sich ihrem Mann zu, der am gedeckten Frühstückstisch vor seiner Zeitung saß und ihren traurigen Blick erwiderte.
»Komm her!«, sagte er leise und streckte seine Arme nach ihr aus.
Sophie Duprais liebte ihren Mann, hatte ihn immer geliebt, von der ersten Sekunde an. Damals, bei ihrer ersten Begegnung, trug er ein schmutziges Hemd, eine Schirmmütze und schlammbesudelte Stiefel; seine Hände waren rauh und verhornt.
Doch der Faszination, die er auf sie ausübte, hatte das keinen Abbruch getan. Diese Augen - so groß, blau und tiefgründig - hatten sie sofort betört.
Sie schmiegte sich an ihn. Die Liebe zu ihm war ihr einziger Trost.
In diesem Moment blies ein Windstoß durch das gekippte Fenster und blätterte, als wäre es sein sanfter Wille, eine Seite der aufgeschlagenen Tageszeitung um.
Gemeinsam blickte das Paar herab. Auf den Artikel eines bekannten Journalisten, Philippe Delacroix, der von einem besonderen, sehr privaten Erlebnis berichtete.
Auf einer Geschäftsreise hatte er den Brief eines Mädchens gefunden, das in größter Verzweiflung nach seinen Eltern suchte. Und Delacroix hatte eine tiefe Verpflichtung empfunden, diesem Kind, das er persönlich nicht einmal kannte, zu helfen, indem er den Brief mitsamt dem Foto veröffentlichte.
Cœur de Jolie, 21. August 1954
An den, der diesen Brief in seinen Händen hält!
Mein Name ist Madelaine Teresien, doch der Nachname ist nicht mein richtiger, denn den tragen alle Kinder, die vor dem Kloster abgegeben wurden.
Ich schreibe diesen Brief, weil ich nicht mehr ein noch aus weiß.
Am 10. Juli 1944 wurde ich geboren. Es muss ein stürmischer Tag gewesen sein, ich spüre es genau.
Die Schwestern des Klosters zogen mich auf. Sie waren immer gut zu mir.
Aber ich weiß, dass meine Eltern irgendwo da draußen sind und mich vermissen. Ich bin mir sicher, sie wissen nicht, wo ich bin. Vielleicht haben sie einander verloren, so wie sie auch mich verloren haben. Aber ich weiß, dass sie leben, und ich hoffe, sie können spüren, wie sehr ich auf sie warte. Jeden Tag, jede Stunde.
Doch nun soll ich zu fremden Leuten kommen. Und wenn die mich erst einmal bei sich haben, werden meine richtigen Eltern keine Chance mehr bekommen, mich zu finden. Also sende ich diese Flaschenpost gemeinsam mit meiner Hoffnung auf den Weg, um meine Eltern doch noch zu finden. Ich sende auch ein kleines Foto von mir mit, auch wenn es schon zwei Jahre alt ist und nicht besonders scharf.
Es ist leider das einzige, das ich besitze.
Ich habe hellbraune Haare und blaue Augen, bin Linkshänderin und kann recht gut malen. Es gibt etwas, was mich von den anderen Kindern im Heim unterscheidet. Niemand weiß davon, weil ich mich nie getraut habe, es zu erzählen. Die Schwestern vermuten oft den Teufel hinter Dingen, die sie nicht kennen, und ich wollte sie nicht ängstigen. Doch dir, Fremder, vertraue ich mein Geheimnis an, weil es vielleicht wichtig ist.
Ich sehe Farben, wenn ich etwas höre. Jedes Geräusch hat seine eigene Farbe. Das Zirpen der Grillen ist mein Lieblingsgeräusch. Es ist ein leuchtendes Orange. Das Pfeifen des Windes ist türkisfarben.
Manchmal frage ich mich, ob meine Eltern den Wind auch auf diese spezielle Art wahrnehmen. Wenn ja, und wenn sie diesen Brief lesen könnten, dann wüssten sie, dass ich ihr Kind bin.
Darum bitte ich dich: Hilf mir! Bitte, hilf mir!
In Hoffnung und Dankbarkeit,
Madelaine
Tränen tropften auf den Namen herab. Es war der Name ihrer
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