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Portrat in Sepia

Portrat in Sepia

Titel: Portrat in Sepia
Autoren: Isabel Allende
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ihre Einkäufe tätigten,
schwatzten mit den Männern, die auf dem Gehsteig saßen und
Mah-Jongg spielten, gingen in die kleine Bude des
Kräutersammlers, wo sie ein paar Medikamente in Empfang
nahmen, die der zhong yi in Shanghai bestellt hatte, und hielten
sich kurz in einer Spielhölle auf, um von der Tür aus auf die
Fan-Tan-Tische zu sehen, denn Tao war gefesselt von den
Wetten, mied sie aber wie die Pest. Sie tranken auch eine Tasse
grünen Tee in Onkel Luckys Laden, wo sie die letzte Sendung
von Antiquitäten und geschnitzten Möbeln bewunderten, die
gerade eingetroffen war, und dann drehten sie sich um und
gingen geruhsam den Weg zurück nach Hause. Plötzlich kam in
höchster Aufregung ein Junge gerannt und bat den zhong yi, mitzukommen, so schnell er konnte, ein Unfall sei passiert: Ein
Mann sei von einem Pferd in die Brust getreten worden und
liege nun da und spucke Blut. Tao Chi’en folgte ihm eilig, ohne
die Hand seiner Enkelin loszulassen, es ging durch eine
Seitenstraße und eine andere und noch eine, durch enge Gänge
gerieten sie immer tiefer in das verrückte Gewirr des Viertels,
bis sie allein in einer Gasse ohne Ausweg standen, die nur durch
die wie phantastische Glühwürmchen glitzernden Papierlaternen
in den Fenstern schwach erhellt wurde. Der Junge war
verschwunden. Tao Chi’en erkannte endlich, daß er in eine Falle
geraten war, und wollte zurückgehen, aber es war schon zu spät.
Aus den Schatten traten Männer, die mit Knüppeln bewaffnet
waren, und umringten ihn. Der zhong yi hatte in seiner Jugend
Kampfsport betrieben und trug immer ein Messer im Gürtel
unter dem Jackett, aber er konnte sich nicht verteidigen, ohne
die Hand des Kindes loszulassen. Er hatte noch gerade Zeit, zu
fragen, was sie wollten, was denn los sei, und hörte den Namen
Ah Toy, während die Männer in schwarzen Pyjamas, die
Gesichter hinter Tüchern versteckt, um ihn herumtanzten, dann
erhielt er den ersten Schlag in den Rücken. Lai-Ming wurde
nach hinten gerissen und wollte sich an ihren Großvater
klammern, aber die geliebte Hand ließ sie los. Sie sah die
Knüppel sich heben und niedergehen auf den Körper ihres
Großvaters, sah einen Blutstrahl aus seinem Kopf hochschießen,
sah ihn vornüber zu Boden stürzen, sah, wie sie schlugen und
schlugen, bis er nur noch ein blutiges Bündel auf den
Pflastersteinen der Gasse war.
    »Als man mir Tao auf einer behelfsmäßigen Trage brachte
und ich sah, was sie mit ihm gemacht hatten, brach in mir etwas
in tausend Stücke wie eine Kristallvase, und damit zersprang
auch für immer meine Fähigkeit zu lieben. Ich bin innerlich
ausgetrocknet, bin nie wieder dieselbe geworden. Ich empfinde
Zuneigung für dich, Lai-Ming, auch für Lucky und seine
Kinder, ich habe sie für Miss Rose empfunden, aber Liebe kann
ich nur für Tao fühlen. Ohne ihn ist mir nichts mehr sonderlich
wichtig, jeder Tag, den ich noch lebe, ist ein Tag weniger in der
langen Wartezeit, nach der ich mich wieder mit ihm vereinigen
werde«, gestand mir meine Großmutter Eliza. Sie fügte hinzu, es
tue ihr leid, daß ich dem Martyrium des Menschen zusehen
mußte, den ich am meisten liebte, aber sie nehme an, daß die
Zeit die Wunde heilen werde. Sie habe geglaubt, mein Leben bei
Paulina del Valle fern von Chinatown würde mir helfen, Tao zu
vergessen. Sie habe nicht geahnt, daß die Szene in der Gasse für
immer als Albtraum in mir steckenbleiben würde und daß der
Geruch, die Stimme und die leichte Berührung der Hände
meines Großvaters mich noch im Wachen begleiteten.
    Tao Chi’en gelangte lebend in die Arme seiner Frau, achtzehn
Stunden später kam ihm das Bewußtsein zurück. Eliza hatte
zwei amerikanische Ärzte geholt, die bei mehreren
Gelegenheiten die Kenntnisse des zhong yi in Anspruch
genommen hatten. Sie untersuchten ihn und kamen zu einem
traurigen Ergebnis: sein Rückgrat war gebrochen, und selbst in
dem unwahrscheinlichen Fall, daß er am Leben bliebe, würde er
zur Hälfte gelähmt sein. Die Wissenschaft könne nichts für ihn
tun, sagten sie. Sie beschränkten sich darauf, seine Wunden zu
reinigen, die gebrochenen Knochen ein wenig zu richten, seinen
Kopf zu nähen und kräftige Dosen Narkotika zurückzulassen.
Inzwischen hatte die Enkeltochter, von allen vergessen, sich in
einen Winkel neben dem Bett ihres Großvaters gekauert und rief
ihn lautlos an oi goa!, oi goa! -, ohne begreifen zu können,
warum er nicht antwortete, warum sie nicht
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