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Portrat in Sepia

Portrat in Sepia

Titel: Portrat in Sepia
Autoren: Isabel Allende
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Missionarinnen gehört zu
werden, und schon bald vermehrten sich die Razzien der Polizei,
begleitet von Artikeln in den Zeitungen. Diesmal diente die
listige Feder Jacob Freemonts endlich einmal wieder einem
guten Zweck, er rüttelte das Gewissen der Bürger auf mit
seinem wortgewandten Feldzug gegen das furchtbare Schicksal
der kleinen Sklavinnen mitten im Herzen von San Francisco.
Der alte Journalist sollte wenig später sterben, ohne die Wirkung
seiner Artikel zu erleben, Donaldina und Martha dagegen
konnten die Früchte ihres Eifers ernten. Achtzehn Jahre später
lernte ich sie auf einer Reise nach San Francisco kennen, sie
haben immer noch die rosigen Wangen und die gleiche
messianische Inbrunst im Blick, noch immer gehen sie täglich
durch Chinatown, immer wachsam, aber keiner nennt sie mehr
verfluchte fan gui, und keiner spuckt mehr aus, wenn sie
vorbeigehen. Jetzt nennen sie sie lo mo, liebevolle Mutter, und
verneigen sich zum Gruß. Die beiden haben Tausende armer
Geschöpfe gerettet und den schamlosen Handel mit Kindern
unterbunden, wenn ihnen das auch bei anderen Formen der
Prostitution nicht gelungen ist. Mein Großvater Tao wäre sehr
zufrieden.
    Am zweiten Mittwoch im November ging Tao wie jeden Tag
seine Enkelin Lai-Ming aus dem Teesalon seiner Frau am Union
Square abholen. Die Kleine blieb nachmittags bei ihrer
Großmutter Eliza, bis der zhong yi den letzten Patienten in
seiner Praxis behandelt hatte und zu ihr kam. Das Haus der
Chi’ens war nur sieben Häuserblocks entfernt, aber Tao hatte die
Gewohnheit, um diese Zeit durch die beiden Hauptstraßen von
Chinatown zu streifen, wenn in den Läden die Papierlaternen
angezündet werden, die Leute ihre Arbeit beendet haben und auf
der Suche nach Zutaten zum Abendessen sind. Er ging gern,
seine Enkeltochter an der Hand, über die Märkte, wo sich die
vertrauten Früchte aus Übersee stapelten, die lackierten Enten an
den Haken hingen, sich Pilze, Insekten, Muscheln, Innereien
und Heilpflanzen häuften, die man nur hier finden konnte. Da in
seinem Heim niemand Zeit zum Kochen hatte, wählte Tao
sorgfältig die Gerichte aus, die er zum Abendessen mitnahm,
fast immer dieselben, weil Lai-Ming wählerisch im Essen war.
Ihr Großvater wollte sie in Versuchung führen, indem er ihr
Happen von den köstlichen kantonesischen Gerichten zu kosten
gab, die an den Straßenständen verkauft wurden, aber meistens
einigten sie sich auf die gleichen Varianten von chow mein und
Schweinerippchen. An diesem Tag trug Tao zum erstenmal
einen neuen Anzug, den ihm der beste chinesische Schneider der
Stadt genäht hatte, der nur für die vornehmsten Männer der
Stadt arbeitete. Er kleidete sich seit vielen Jahren amerikanisch,
aber seit er die Staatsangehörigkeit beglaubigt bekommen hatte,
achtete er auf gepflegte Eleganz als Zeichen des Respekts
gegenüber seinem Adoptivvaterland. Er sah sehr gut aus in
seinem tadellosen schwarzen Anzug, dem gestärkten Hemd mit
der breiten Krawatte, dem Mantel aus englischem Tuch, dem
Zylinder und den Handschuhen aus elfenbeinfarbenem
Glaceleder. Das Aussehen der kleinen Lai-Ming bildete einen
scharfen Kontrast zu dem westlichen Aufzug ihres Großvaters,
sie trug warme lange Hosen und ein gestepptes Seidenjäckchen,
beides in strahlenden Gelb- und Blautönen und so dick
gepolstert, daß die Kleine sich recht schwerfällig fortbewegte,
das Haar war zu einem festen Zopf geflochten, und darauf saß
eine bestickte schwarze Kappe nach der Mode von Hongkong.
Beide erregten Aufsehen in der fast ausschließlich männlichen
Menge, in der man die typischen schwarzen Hosen und Tuniken
trug, so einheitlich, daß man hätte meinen können, die
chinesische Bevölkerung sei uniformiert. Die Leute blieben
stehen, um den zhong yi zu grüßen, denn soweit sie nicht seine
Patienten waren, kannten sie ihn doch vom Sehen und dem
Namen nach, und die Händler schenkten der Enkelin hübsche
Kleinigkeiten, um sich bei dem Großvater beliebt zu machen:
einen phosphoreszierenden Käfer in seinem winzigen Holzkäfig,
einen Papierfächer, eine Süßigkeit. Wenn es Abend wurde,
herrschte in Chinatown immer eine festliche Atmosphäre,
lärmend geführte Unterhaltungen, lautes Feilschen, Geschrei der
Ausrufer; es roch nach gebratenem Fleisch, Gewürzen, Fisch
und Unrat, denn die Abfälle häuften sich mitten auf der Straße.
Der Großvater und seine Enkeltochter spazierten an den Läden
vorbei, in denen sie gewöhnlich
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