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PopCo

PopCo

Titel: PopCo
Autoren: Scarlett Thomas
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wird man dabei selbst eingekreist.
     Go wird seit dreitausend Jahren gespielt und verfügt über mehr mögliche Spielzüge, als das Universum Atome hat.
     
    Ein Nachtzug wirkt schwerfälliger als ein normaler Zug, so wie man sich selbst beim Schlafen schwerfälliger fühlt, als wenn
     man wach ist. Während mein Waggon langsam aus dem Bahnhof rollt, ziehe ich ein Buch aus der Tasche und strecke mich auf dem
     schmalen Bett aus, um zu lesen. Bald lenken mich aber die Lichter draußen ab, und ich lege das Buch weg und ziehe die kleine
     Jalousie vor dem Fenster hoch, um besser sehen zu können. Das Fenster hat eine Milchglasscheibe, sodass man nicht richtig
     hinausschauen kann (herein auch nicht, was vermutlich der eigentliche Grund ist). Öffnen lässt es sich auch nicht. Doch irgendwie
     macht es die kleinen orangefarbenen und weißen Lichter draußen fast interessanter, dass man nicht sieht, woher sie kommen.
     Ich bin wie hypnotisiert. Dieser Zug rast nicht in Richtung Reading, wie es die Tageszüge tun; er kriecht einfach so dahin,
     als wäre er leicht defekt. Irgendwann hört man Bohrgeräusche, dann etwas, das sich nach Schweißarbeiten anhört und auch danach
     aussieht. Ich komme mir vor wie in einem postapokalyptischen japanischen Videospiel, auf der Fahrt durch eine von Anarchie
     und Krieg verwüstete Stadt, ausgerüstet mit einem gewaltigen Schwert und vielleicht noch ein paar Zaubersprüchen. Weil ich
     bei alldem unmöglich lesen kann, krieche ich unter die Decke und lausche und schaue einfach nur, bis ich schließlich einschlafe.
    Kurz vor vier klopft es leicht an meine Tür. Im Halbschlaf nehme ich eine fremde Stimme wahr, die «Hallo? Hier ist derWeckdienst» zu rufen scheint. Ich habe das Gefühl, als wäre ich erst vor fünf Minuten eingeschlafen, und kriege die Augen
     kaum auf.
    Die Tür wird vorsichtig geöffnet. «Ihr Wasser», flüstert die Frau und reicht mir ein kleines Tablett. Dann fügt sie noch hinzu:
     «In einer Viertelstunde sind wir in Newton Abbot.»
    Durch die geöffnete Tür höre ich die Stille draußen auf dem Gang und kann den Schlaf aus den anderen Abteilen förmlich riechen.
     Ich denke darüber nach, dass die Zugbegleiter sich hier immer ganz sanft, langsam und leise verhalten müssen. Ob sie wohl
     auch noch flüstern, wenn sie frei haben, so wie ich nie ganz aufhören kann, mir Gedanken darüber zu machen, was Neun- bis
     Zwölfjährige gern spielen, selbst wenn ich nicht im Büro bin? Den Kopf voll ungeformter Gedanken setze ich mich auf, nehme
     das Tablett in Empfang und murmele ein verschlafenes Dankeschön, während mir die Duschhaube an den Ohren knistert.
    Die Frau schließt sanft die Abteiltür, und ich bin wieder allein. Auf dem Tablett steht eine kleine Teekanne, und ein Blick
     hinein überzeugt mich, dass sie mir tatsächlich nur das heiße Wasser gebracht hat, das ich am Abend zuvor bestellt habe, und
     dazu ein paar von den Great-Western-Railway-Keksen, die man im Zug grundsätzlich zu allem bekommt. Ich hole den kleinen Beutel
     Grüntee aus meinem Koffer, streue eine Prise davon ins Wasser und sehe zu, wie die Teeblätter umgehend aufquellen. Dann verbringe
     ich ein paar Minuten mit Pusten und Nippen und lasse das Koffein seine Wirkung tun. Ich schließe die Augen, zähle bis dreißig
     und öffne sie dann wieder.
    Mein Zeitgefühl ist verschoben, und plötzlich weiß ich nicht mehr, wie lange es noch dauert, bis der Zug in Newton Abbot hält.
     Zwölf Minuten? Elf? Ich habe immer diese Angst, nicht rechtzeitig aus dem Zug zu kommen. Einmal stieg ichfast als Letzte aus einem sehr vollen Zug, irgendwo in der Nähe von Cambridge. Als ich bereits draußen war und den Bahnsteig
     entlang zum Ausgang gehen wollte, hörte ich hinter mir plötzlich lautes Rufen. Ich drehte mich um und sah einen Mann, der
     noch im Zug war und verzweifelt die Tür zu öffnen versuchte. Er hatte das Fenster hochgeschoben, rüttelte außen am Türgriff
     und rief laut: «Ich krieg die verdammte Tür nicht auf!» Ich wollte hin und ihm helfen, doch in dem Moment fuhr der Zug schon
     wieder an. Der Mann geriet in Panik und fing an, mit den Fäusten gegen die Tür zu trommeln. «He!», schrie er. «Ich muss doch
     hier raus!» Aber es war zu spät, keiner konnte mehr etwas tun, und der Zug fuhr aus dem Bahnhof, während der Mann immer noch
     um Hilfe rief. Vielleicht ist es global gesehen gar keine so große Katastrophe, den richtigen Bahnhof zu verpassen – je nachdem,
     wie
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