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PopCo

PopCo

Titel: PopCo
Autoren: Scarlett Thomas
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umständlich es ist, bis zum nächsten Halt des Zuges und wieder zurück zu fahren. In meinem Fall müsste ich, wenn ich Newton
     Abbot verpasse, bis Plymouth weiterfahren und dort mindestens zwei Stunden auf eine Verbindung in die Gegenrichtung warten.
     Mitten in der Nacht fahren nicht so viele Züge.
    Zwischen ein paar Bissen Müsli aus der Tüte und weiteren kleinen Schlucken von meinem Tee ziehe ich den Schlafanzug aus und
     die Kleider wieder an, in denen ich wenige Stunden zuvor in den Zug gestiegen bin. Nur für die Schuhe habe ich keinen Nerv
     und streife stattdessen meine Turnschuhe über – was allerdings bedeutet, dass ich die Schuhe auch noch irgendwie in den kleinen,
     ohnehin viel zu vollen Koffer quetschen muss. Das kostet mich fast neunzig Sekunden, ein Zehntel der Zeit, die mir bleibt,
     um mich fertig zu machen und aus dem Zug zu steigen. Kurz darauf trete ich etwas erhitzt auf den Gang hinaus und warte dort
     gefühlte zwei Stunden, bis der Zug endlich langsamer wird und sanft ruckelnd anhält. Wie immer hat mir die Zeit auch diesmal
     einen Streich gespielt.
    Außer mir steigt niemand in Newton Abbot aus. Sofort fällt mir auf, wie frisch und klar die Luft hier ist. Als der Zug den
     Bahnhof wieder verlassen hat, droht mich die Stille schier zu überwältigen, bis in einem Baum auf der anderen Straßenseite
     ein einsamer Vogel zu zwitschern beginnt. Ich war noch nie hier und weiß nicht recht, was mich erwartet. Beim Fahrkartenkauf
     konnte ich nur herausfinden, dass dieser Bahnhof von Hare Hall aus zwar nicht der nächste ist, aber dafür der einzige, an
     dem der Nachtzug hält. Ich habe mir ausgerechnet, dass die Taxifahrt nach Hare Hall von hier aus etwa zwanzig Pfund kosten
     dürfte, wohingegen ich fünfzig Pfund bezahlen müsste, wenn ich in Plymouth aussteigen würde. Das fällt zwar alles unter Reisekosten,
     aber womöglich muss ich mich doch irgendwann rechtfertigen. Bisher sind meine Nachtfahrten immer durchgerutscht, doch ich
     möchte wirklich nicht in die Lage kommen, erklären zu müssen, warum ich in aller Herrgottsfrühe fünfzig Pfund für ein Taxi
     ausgegeben habe, während sich die Reisekosten der anderen in niedrigeren, normaleren Bereichen bewegen.
    Manchmal kann Reisen bei Nacht auch deprimierend sein. Aber es gibt einen Trick: Man braucht sich nur in Erinnerung zu rufen,
     was das alles für ein Abenteuer ist und wie viel mehr man von der Welt sieht, wenn man zu einer Zeit auf den Beinen ist, zu
     der die meisten anderen friedlich schlafen. Es ist aufregend, vor Sonnenaufgang an einen fremden, menschenleeren Ort zu kommen.
     So ähnlich müsste es sich anfühlen, wenn ein großer Atomschlag alle Menschen töten würde, bis auf einen selbst (weil man beispielsweise
     in einem ganz speziellen Bunker untergekrochen ist), und man danach wieder ins Freie käme. Eine unbewohnte Welt, aus der mit
     einem Schlag alle Menschen verschwunden scheinen. Ehrlich: Ich liebe Nächte. Ich fürchte mich weder vor der Dunkelheit noch
     vor fremden Männern. Früher war das anders, doch dann habeich festgestellt, dass Angst nur im Kopf entsteht. Wenn man alle Ängste – mitten in der Nacht durch eine fremde Stadt zu laufen
     zum Beispiel oder allein in einen dunklen Wald zu geraten – in ihre Einzelteile zerlegt, stellt man schnell fest, dass man
     eigentlich nur Angst vor dem Alleinsein hat. Ich rufe mir ins Gedächtnis, dass ich in den allermeisten angstbesetzten Situationen
     wüsste, wie ich mich zu verhalten hätte (schließlich habe ich mich ja für die Arbeit damit beschäftigt), und mich auch nicht
     vor dem Alleinsein fürchte, und verlasse den Bahnhof.
    Auf dem kleinen Parkplatz draußen warten ein paar Taxis, verpennte Fahrer rauchen Selbstgedrehte oder hören das Nachtprogramm
     im F M-Radio . Eins dieser Taxis werde ich später nehmen, aber erst, wenn es hell ist. Ich kann auf keinen Fall um fünf Uhr morgens in
     Hare Hall aufkreuzen, das wäre dann doch zu sonderbar. Stattdessen werde ich diese große Kleinstadt oder kleine Großstadt
     im Schutz der Dunkelheit ein wenig erkunden, in der Hoffnung, dass das vielleicht ein paar interessante, brauchbare Ideen
     in mir auslöst, und mir dann ein Café zum Frühstücken suchen. Auch das habe ich mir durch die Arbeit angewöhnt. Man kann die
     merkwürdigsten Dinge damit rechtfertigen, dass sie ja «Ideen generieren» könnten. Und das ist nicht einmal nur eine blöde
     Ausrede: Solche Seltsamkeiten und verschobenen
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