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Plan D

Plan D

Titel: Plan D
Autoren: Simon Urban
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mal in Berlin.«
    »Oder er wohnt in Berlin und ist nur ab und zu mal hier.«
    Voss nahm seine Mütze ab. »Eine Geliebte?«
    »Könnte sein. Muss aber eine anspruchslose Geliebte sein, wenn er eine Platte in Marzahn anmietet. Sieht eher nach Notunterkunft aus, falls es eng wird. Ein Versteck. Ein Versteck mit Rosen, immerhin.«
    »Versteck vor wem?«
    »Vielleicht vor seinen Mördern.«
    »Wie hat’s ihn denn erwischt?«
    »Die Sache ist vermutlich jetzt schon Stufe drei. Seien Sie froh, wenn ich Sie mit dem Kram verschone, dann müssen Sie später nichts unterschreiben.«
    Voss nickte und stülpte seine Mütze wieder auf.
    »Sie warten bitte hier auf die Spurensicherung«, sagte Wegener. »Sobald Ulf Lienecke da ist, nehmen Sie sich die Nachbarn vor. Viele sind es ja nicht. Vielleicht ist Fischer mal in Begleitung gesehen worden, vielleicht hat ihm auch mal jemand im Fahrstuhl ein Gespräch aufgedrängt. Danach stellen Sie bitte Kontakt zur Hausverwaltung her und besorgen alles, was die über ihn haben.«
    Voss kramte in seiner Hosentasche nach den Wagenschlüsseln.
    »Ich nehm die Bahn«, sagte Wegener. »Da kann man die Fenster öffnen.«

4
    D ie S 7 ruckelte, stotterte, zuckte, dann sauste sie plötzlich los, als wäre sie gerade noch hinten festgehalten worden und hätte sich mit letzter Kraft aus einem harten Griff befreit. Der Glaskubus des Bahnhofs Friedrichstraße blieb zurück, Regen klatschte an die zerkratzten Scheiben. Die Bahn zischte über ihr eisernes Viadukt in Richtung Alexanderplatz, immer auf Augenhöhe mit den dritten Stockwerken der Stadt. Rußgeschwärzte Mietshausfassaden fuhren vorbei, schmutziger Stuck, brüchige Ziegelwände, schwere Vorhänge hinter morschen Altbaufenstern, steinerne Fallrohre, die man mit Plastik und Draht geflickt hatte und die längst wieder so undicht waren wie vorher. Zwischen den Wohnhäusern mehrstöckige, erleuchtete Setzkästen, zahllose quadratische Fächer, in denen Behörden Robotronpopulationen, Gummipflanzen und Büroangestellte sammelten.
    Wegener fror.
    Die Heizung funktionierte nicht oder war noch nicht angestellt, vielleicht hatten die Geizhälse bei den Verkehrsbetrieben auf einen milden Oktober gehofft. Aus dem Regen wurde leichter Hagel, klackerte auf das Metalldach, Eiskörner krochen quer über die Scheiben und ließen dünne Wasserfäden zurück. Die Bahn legte sich in die Kurve, bog sich nach rechts, ein leuchtender Schweif im dunklen Häusertal. Über den Dächern erschien der silberne Ball des Fernsehturms am Abendhimmel wie eine gigantische Christbaumkugel. Lichter spiegelten sich auf dem nassen Asphalt der Karl-Liebknecht-Straße, brachen sich in den wandernden Tropfen auf den Waggonfenstern. Wegener hatte plötzlich das Gefühl, Lebkuchen zu riechen oder Glühwein mit Zimt. Weihnachten packte ihn mit der Wucht von Erinnerungen, die abrupt ausgelöst werden, durch einen Duft, einen Geschmack, durch irgendetwas, das man noch eine Sekunde vorher kein bisschen geahnt hat. Die Bahn bremste so rumpelig, wie sie angefahren war. Ein spitzes Quietschen unter den Bodenblechen. Stillstand. Die Türen zischten länger, als sie sich öffneten. Wegener stieg aus, nahm die Treppe ins Erdgeschoss und versuchte, diese Weihnachtsassoziation aus dem Kopf zu kriegen, das, was immer noch die Mutter-Vater-Welt war, was er erfolgreich wegschob und was erfolgreich wiederkam, der schwerwiegende Verlust, der ihm auf den abschüssigen Wegen der Erinnerung hinterherrutschte und spätestens Heiligabend in den Nacken krachen würde. Als er die massiven Schwingtüren der Station aufstieß, roch der Alexanderplatz zum Glück nach Phobosfett und nicht nach gebrannten Mandeln. Anderthalb Monate, dann würden Glühwein, Stollen, Zuckerwatte und feierliche Tristesse die Oberhand gewinnen.
    Im Berolina-Haus wurde auch um Viertel nach sieben noch der Sozialismus aufgebaut; hinter fast allen Fenstern brannte Licht. Wegener klappte den Mantelkragen hoch und rannte am S-Bahnhof entlang auf den leuchtenden Sandsteinklotz zu, versuchte, den stärker werdenden Bratwurstduft zu ignorieren, wich auf der Dircksenstraße einigen esstischgroßen Pfützen aus und fluchte: sechsundfünfzig! Und immer noch keinen Schirm!
    Als er unter dem gläsernen Vordach des Berolina-Hauses ankam, war er nass. Neben der gewaltigen, goldenen Pforte des Haupteingangs glänzte die Angeber-Messingtafel mit endloser Gravur: Ministerium für Energieexport & Transitwirtschaft der Deutschen Demokratischen
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