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Picknick auf dem Eis (German Edition)

Picknick auf dem Eis (German Edition)

Titel: Picknick auf dem Eis (German Edition)
Autoren: Andrej Kurkow
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eine Chance besteht zu überleben. Auf dem Bahnhof sah Viktor keine solche Chance für sich, aber er wollte seinen Tod etwas hinauszögern, wenigstens um ein paar Tage.
    Gleichzeitig war er beleidigt, daß sein ›Kreuzchen‹ von einem so offensichtlich unbegabten Menschen geschrieben worden war.
    ›Ich hätte besser über mich geschrieben‹, dachte er und verdrängte diesen Gedanken sofort, da er ihm äußerst blöd vorkam.
    Warum stand da kein Wort über Nina und Sonja? Wieso war nur der Pinguin erwähnt? Anscheinend kannten die ihn besser als er sich selbst. Daß die Leute, die jene Dossiers zusammenstellten, mehr als er wußten, war sowieso offenkundig. Sie wußten sogar, von wem das Spenderherz für den Pinguin stammte. Viktor hatte das nicht gewußt.
    »Der Zug Lemberg–Moskau fährt auf Gleis neun ein!« verkündete eine dumpfe, krächzende Stimme, und die neben Viktor sitzenden Frauen sprangen jäh auf, warfen sich schwere Säcke über die Schultern und schleppten riesige Taschen davon.
    Viktor fühlte sich unwohl. Erstens war er den Frauen bei ihrem hastigen Aufbruch im Weg und zweitens war nun die ganze Bank leer. Viktor stand ebenfalls auf und ging zum Ausgang.
    Nach Hause kam er etwa gegen ein Uhr. Leise machte er die Tür hinter sich zu und zog die Schuhe aus.
    Nina und Sonja schliefen schon.
    Ohne Licht anzumachen, setzte er sich an den Küchentisch. Er sah auf die Fenster des gegenüberliegenden Hauses, nur ein einziges Fenster im ersten Stock war noch hell. Sicher wohnte da die Hauswartsfrau.
    In der Ecke auf dem Fensterbrett entdeckte Viktor ein Mayonnaisegläschen mit einer Kerze. Diese Kerze erinnerte ihn an etwas. Er holte sich Streichhölzer vom Herd und zündete sie an.
    Die nervöse Flamme warf diffuse Lichtflecke auf die Wände. Wie verzaubert blickte Viktor eine Weile in die Flamme. Dann nahm er ein Blatt Papier und einen Kuli zur Hand.
    »Liebe Nina«, schrieb er. »In der Tasche auf dem Schrank liegt Sonjas Geld. Kümmere dich um sie. Ich muß für einige Zeit wegfahren. Wenn der Staub sich gelegt hat, komme ich zurück.« Dieser Satz schrieb sich wie von selbst, und Viktor hätte ihn gerne ausgestrichen, tat es dann aber doch nicht, sondern las ihn nur mehrere Male vor sich hin. Er klang so tröstlich einlullend. »Ich wünsche dir alles Gute, Viktor.«
    Als er das geschrieben hatte, schob er den Zettel von sich weg. Er saß noch lange da und sah in die Kerzenflamme.
    Auf dem Fensterbrett stand wie früher die dunkelgrüne Urne mit dem Deckel. Die Kerze spiegelte sich auf ihr mit einem sanften matten Schein.
    Viktor fiel Ljoschas Lieblingswort ein: Stil. ›Vielleicht sollte ich mir einen eigenen ‘Stil’ ausdenken? Vor dem ‘Selbstmord’ etwas Originelles machen. Irgendwo hinfahren, wo ich noch nie war? Da, wo ich noch nie war, wird mich auch niemand suchen!‹
    Die Kerze beleuchtete Viktors trauriges Lächeln. Er stand auf, ging leise ins Schlafzimmer, machte den Schrank auf, zog aus der Wintermanteltasche den Packen seiner eigenen Dollars, die er zusammen mit dem Pinguin verdient hatte. Von der Küche aus blickte er noch einmal auf die Straße. Da unten in der Dunkelheit wird es sicher kalt sein, vermutete er, kehrte ins Schlafzimmer zurück und holte sich einen Pullover. Über den Pullover zog er wieder die Windjacke, packte die Dollars in die Tasche und verließ die Wohnung.
    76
     
    Für zehn Dollar brachte ihn der Taxifahrer direkt zum Eingang des Kasinos ›Johnny‹. Hier verstellte ihm ein Schrank von einem Wächter im dunklen Anzug den Weg. Aus irgendeinem Grund riefen dessen gewaltige Gestalt und seine aggressiv-drohende Haltung bei Viktor Gelächter hervor. Er zeigte dem Wächter seine Dollars. Dann zog er einen Schein heraus, und ohne nachzusehen, wieviel es war, steckte er ihn dem Wächter in die Brusttasche. Der Wächter trat beiseite.
    Hinter der Kasse döste ein Mädchen in einer schneeweißen Bluse und einem blauen Tuch um den Hals. Für eine nächtliche Veranstaltung schien es zu still zu sein. Viktor sah sich verdutzt um – ein Kasino bei Nacht hatte er sich völlig anders vorgestellt.
    Er pochte mit dem Finger an das Fenster. Das Mädchen wachte auf und sah verwundert auf Viktors Windjacke.
    Er schob ihr einen Hundertdollarschein hin.
    Sie gab ihm verschiedenfarbige Plastikjetons.
    »Sind Sie zum ersten Mal hier?« fragte sie, als sie bemerkte, wie argwöhnisch Viktor die Jetons ansah. »Das ist anstelle von Geld. Damit können Sie an der Bar was trinken und
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