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Phantom des Alexander Wolf

Phantom des Alexander Wolf

Titel: Phantom des Alexander Wolf
Autoren: G Gasdanow
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oder lächerlich – das Tapetenmuster in den Gasthäusern, wo wir übernachteten, die Gesichter der Zimmermädchen oder der Wirtinnen, die Speisekarten oder die Anzüge unserer Tischnachbarn oder die vollkommen unwichtigen Dinge, die sie beschäftigten, denn die einzigen Dinge, die tatsächlich von Belang waren, kannten nur wir beide und niemand sonst.
    Wir kehrten genau eine Woche später nach Paris zurück. Mich erwartete ein Eilauftrag, an dem Jelena Nikolajewna wie gewöhnlich tätigen Anteil nahm. Der erste Tag verging wie immer. Als sie mich aber am nächsten Morgen weckte, verblüffte mich der Ausdruck von Unruhe, der ein paarmal, wie mir schien, in ihren Augen aufblitzte. Dann antwortete sie mir zerstreut, was bislang noch nie vorgekommen war.
    »Was hast du?«
    »Nichts«, erwiderte sie. »Es ist vielleicht dumm, aber ich möchte dir eine Frage stellen.«
    »Ja?«
    »Liebst du mich wirklich?«
    »Es scheint mir so.«
    »Ich wollte das klären.«
    »Wie alt bist du?«
    »Doch, wirklich, das zu wissen ist wichtig.«
    Ich verabschiedete mich von ihr wie gewöhnlich, spät in der Nacht, sie klagte, dass sie müde sei, und sagte, morgen komme sie erst um vier Uhr nachmittags zu mir.
    »Schön«, sagte ich, »es wird dir guttun, dich auszuruhen.«
    * * *
    Ich fiel sofort in tiefen Schlaf, wachte aber sehr bald auf. Dann schlummerte ich wieder ein – und schlug nach einer Stunde erneut die Augen auf. Ich konnte nicht begreifen, was mit mir los war, ich dachte sogar, ob ich mir nicht den Magen verdorben hätte. Ich empfand eine Art grundloser Unruhe, die umso unverständlicher war, als es dafür tatsächlich keinen Anlass zu geben schien. Aber der Schlaf floh mich entschieden, und nach fünf Uhr in der Früh stand ich auf. So etwas war mir seit vielen Jahren nicht mehr passiert.
    Da ich mir endgültig sicher war, ich würde nicht mehr einschlafen, trank ich eine Tasse schwarzen Kaffee, nahm ein Bad und begann, mich zu rasieren. Aus dem Spiegel schaute mich mein Gesicht an; obgleich ich es zeit meines Lebens jeden Morgen sah, konnte ich mich immer noch nicht an seine ausgeprägte Hässlichkeit gewöhnen, wie ich mich auch nicht an den fremden und ungezähmten Blick meiner eigenen Augen gewöhnen konnte. Wenn ich über mich nachdachte, über Gefühle, die ich empfand, über Dinge, die ich, wie mir schien, besonders gut begriff, sah ich mich immer als etwas beinahe Abstraktes, denn die andere, visuelle Erinnerung war mir lästig und unangenehm. Die besten, lyrischsten oder schönsten Visionen verflüchtigten sich im Nu, sobald mir mein körperliches Erscheinungsbild in den Sinn kam – dermaßen krass war das Missverhältnis zwischen ihm und der fiktiven und funkelnden Welt, die in meiner Phantasie erstanden war. Mir schien, als könnte es keinen größeren Kontrast geben wie den zwischen meinem Seelenleben und meinem Aussehen, und manchmal schien mir, als steckte ich in jemandes fremder und beinahe verhasster Hülle. Gelassen ertrug ich den Anblick meines nackten Körpers, eines im Grunde normalen Körpers, an dem sich alle Muskeln gehorsam und gleichmäßig bewegten und so verteilt waren wie nötig; es war ein gewöhnlicher und unauffälliger Körper ohne übermäßige Magerkeit und ohne überflüssiges Fett. Aber dort, wo das Gesicht begann, ging er in etwas über, das dermaßen dem entgegengesetzt war, was eigentlich hätte sein müssen, dass ich den Blick der fremden Augen vom Spiegel abwandte und mich bemühte, nicht daran zu denken. Jetzt, nach der schlaflosen Nacht, war dieses unangenehme Gefühl noch stärker als sonst.
    Ich war gerade mit dem Ankleiden fertig und wollte mich an die Arbeit setzen, da ertönte in meinem Zimmer plötzlich das Telefon. Verwundert schaute ich auf die Uhr; es war zwanzig vor sechs. Mir war unbegreiflich, wer mich so früh anrufen könnte. Nach einigem Zaudern griff ich zum Hörer. Eine völlig betrunkene Stimme, in der ich jedoch eine bekannte Intonation zu entdecken meinte, sagte zu mir:
    »Guten Morgen, meine Liebe.«
    »Was hat das zu bedeuten?«
    »Du erkennst mich nicht?«
    Es war ein Mann, der wollte, dass man ihn für eine Frau hielt – und da erkannte ich die Stimme tatsächlich. Sie gehörte einem meiner Kollegen von der Zeitung, einem sehr sympathischen und sehr liederlichen Mann. Ab und zu betrank er sich derart, dass er buchstäblich den Verstand verlor, und das ging fast immer mit den unglaublichsten Geschichten einher: Mal wollte er mitten in der Nacht einem
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