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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition)
Autoren: Kai Meyer
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Kabel stand ein Stück weiter westlich wie ein Kreuz in den Kulissen eines apokalyptischen Passionsspiels.
    Ich hatte Spuren erwartet. Ein paar Überbleibsel dessen, was hier geschehen war. Aber da war nichts, nur der ausgebesserte Asphalt. Rundum hatte sich die Wüste längst zurückgeholt, was ihr gehörte.
    Auf den Tag genau vor drei Jahren war hier ein Airbus 318 mit rauchenden Triebwerken aus dem Himmel gestürzt, hatte eine Notlandung auf der Straße versucht und war beim ersten Bodenkontakt explodiert.
    An diesem Ort, gottverlassen im Nichts, waren unsere Eltern gestorben.

4.
    Jeder weiß genau, was er gerade tat, als die ersten Meldungen über die Geister die Runde machten. Der 17. Mai hat sich in die Erinnerung der Menschen gefressen wie vorher nur zwei, drei andere Daten.
    Bis schließlich auch der Letzte mit eigenen Augen einen Geist gesehen hatte, wurde es Juni. Natürlich berichtete man im Fernsehen über nichts anderes mehr, doch in den Reportagen wirkten die Erscheinungen wie billige Spezialeffekte. Wir sind mit digitalen Dinosauriern, Superhelden und Monsterhorden aufgewachsen, da haut einen ein leuchtender Mensch nicht mehr um.
    Zu Beginn waren sie nichts als glühende Abbilder von Verstorbenen. Nackte Abbilder. Dass ausgerechnet die Körpermitte genug Helligkeit ausstrahlte, um peinliche Details zu verbergen, verstärkte anfangs die Gerüchte, alles sei nur ein gigantischer Spaß. Eine Art Hoax, den ein paar Spaßvögel über die Sender und Newsportale jagten.
    Doch als die ersten Geister in der eigenen Straße auftauchten, manchmal in der eigenen Wohnung, sprach kein Mensch mehr von Spezialeffekten. Es ist leicht, über etwas zu lachen, das du im Fernsehen siehst; wenn der Geist deines toten Ehemanns plötzlich neben dir im Bett steht, ist das eine ganz andere Nummer.
    Sie erschienen stets dort, wo sie gestorben waren – in Krankenhäusern, Hospizen, zu Hause auf dem Sofa. Manche mitten auf der Straße, im Büro oder an der Tiefkühltheke im Supermarkt. Menschen, die kurz zuvor noch froh gewesen waren, ihrem Angehörigen einen Tod im eigenen Bett ermöglicht zu haben, verfluchten bald, dass sie den Sterbenden nicht abgeschoben hatten. Denn die Geister standen unverrückbar da, erstrahlten Tag und Nacht in weißem Totenlicht und ließen sich durch nichts und niemanden vertreiben. Sie sprachen nicht, reagierten auf nichts, rührten sich nicht. Nur ihre Körper drehten sich mit der Sonne am Himmel, egal ob im Freien oder auf einem U-Bahnsteig.
    Sie waren transparent und substanzlos. Bald fuhren Autos achtlos durch Pulks aus Verkehrstoten. In Einkaufsstraßen schoben sich die Massen durch die Geister von Männern und Frauen, die ein Hirnschlag oder Herzinfarkt erwischt hatte. Der Wert neuer Häuser, in denen nachweislich niemand gestorben war, vervielfachte sich – bis wir allmählich die Gesetzmäßigkeiten verstanden, nach denen die Erscheinungen auftauchten.
    Ihre Zahl nahm im Sekundentakt zu. Zu Beginn war nicht klar, ob es Regeln oder ein Schema gab. Dann aber ließ sich nicht mehr übersehen, dass Tag null – genau genommen müsste es Punkt null heißen, denn die ersten Geister erschienen um vierzehn Uhr sieben mitteleuropäischer Zeit – eine Achse mit Pfeilen in zwei Richtungen darstellte. Es war wie eines dieser Rorschach-Bilder, Tintenflecke in perfekter Symmetrie: So erschienen nicht nur die Geister der Menschen, die seitdem gestorben waren, sondern im selben Rhythmus auch jene aus der Zeit davor : Nach zwei Tagen waren es die Geister der letzten vier Tage, nach drei die der letzten sechs, nach fünfzehn Tagen die Geister eines ganzen Monats. Das Muster breitete sich symmetrisch vor und nach Tag null aus, so dass zwölf Monate später die Verstorbenen der letzten zwei Jahre als Erscheinungen zurückgekehrt waren.
    Als die Welt noch nicht aus den Fugen geraten war, waren statistisch jeden Tag über einhundertfünfzigtausend Menschen gestorben. Da seit Tag null jeder, wirklich jeder, als Geist wiederkehrte, erschienen täglich etwa dreihunderttausend Geister. Pro Sekunde kamen weltweit drei bis vier neue dazu.
    Als Emma und ich in der Desierto de Tabernas auf einem Standstreifen parkten und hinaus in die Wüste blickten, gab es auf der Erde rund einhundertfünfundsechzig Millionen Geister. Grob überschlagen war das einer pro Quadratkilometer Festland. In Großstädten, wo am laufenden Band gestorben wird, ballten sich die Erscheinungen, während an Orten wie diesem hier kaum einer
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