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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition)
Autoren: Kai Meyer
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auftauchte.
    Im Fernsehen hatte jemand berechnet, dass es – falls das Tempo nicht anzog – siebzig Jahre dauern würde, ehe die Zahl der Rückkehrer die der Weltbevölkerung einholte. Dann würde es einen Geist für jeden lebenden Menschen auf der Erde geben.

5.
    »Da vorn ist einer«, sagte Emma.
    Sie meinte keinen Geist. Die Wüste war nicht so leer, wie wir geglaubt hatten. Ich beschattete meine Augen mit der Hand und blickte nach Norden. Hundert Meter von der Straße entfernt parkte ein Geländewagen. Von uns aus bis dorthin war es etwa die doppelte Distanz. Neben dem Fahrzeug hatte jemand ein ockerfarbenes Zweimannzelt aufgeschlagen.
    Wegen des gleißenden Sonnenlichts musste ich meine Augen zusammenkneifen. »Sieht aus, als wären wir nicht die Einzigen, die auf jemanden warten.«
    »Willst du hingehen?«
    »Warum sollte ich?«
    Meine Schwester sah mich einen Moment lang ernst an, dann zuckte sie mit den Schultern. »Ich dachte, du bist neugierig.«
    »Kein bisschen.«
    Emma verstand Neugier als theoretisches Konzept. Aber sie behauptete von sich, sie selbst sei noch niemals neugierig gewesen. Damals ahnte ich noch nicht, dass sich das bald ändern sollte.
    Sie ging zurück zur offenen Beifahrertür und nahm einen tiefen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Ich sah noch einmal zu Wagen und Zelt hinüber und erkannte jetzt, dass dort jemand in einem Liegestuhl saß, halb von der Kühlerhaube des Autos verdeckt. Im selben Augenblick erhob er sich und schaute in unsere Richtung. Ein Mann mit nacktem Oberkörper und Schlapphut. Ich wünschte mir, wir hätten ein Fernglas eingepackt.
    Er jedenfalls hatte eines, denn nun hob er etwas vors Gesicht und gleich darauf brachen sich Sonnenstrahlen auf Glas. Mir war unwohl bei der Vorstellung, dass er uns von nahem sah – wie nah eigentlich? –, wir aber nicht mehr als seine vage Gestalt erkennen konnten.
    Emma hatte es ebenfalls bemerkt, positionierte sich breitbeinig vor unserem Wagen und zog sich mit einem Ruck das T-Shirt hoch. Ihre sommersprossigen Brüste spannten sich weiß im Wüstenlicht. Ich verschluckte mich fast an meinem Atem.
    »Herrje, Emma«, entfuhr es mir mit resigniertem Lachen.
    Der andere aber ließ augenblicklich den Feldstecher sinken, wandte sich ab und lehnte sich in seinem Liegestuhl zurück.
    Emma zog das Shirt wieder herunter und trank einen weiteren Schluck lauwarmes Wasser. »Und jetzt?«, fragte sie.
    »Jetzt warten wir.«
    »Ehe es so weit ist, haben wir beide einen Sonnenstich.«
    »Schon möglich.«
    »Wir könnten ihn fragen, ob er noch zwei von diesen Hüten hat«, schlug sie vor.
    »Wir haben Tücher … irgendwo.« Ich warf einen Blick auf die zugemüllte Rückbank, wo unsere Reisetaschen unter Emmas aufgerissenen Keksverpackungen, losen Zeitungsseiten, ein paar Comic-Heften und acht aufgeblasenen Schwimmflügeln begraben lagen. Emma hatte sie an Bord der Fähre auf dem Ärmelkanal gekauft, zwei für jede von uns und vier für den Mini.
    »Hüte«, sagte sie nur und marschierte los, querfeldein über abgestorbenes Gras und Sandwehen.
    »Hey!« Mit ein paar Schritten war ich bei ihr. »Er geht uns nichts an und umgekehrt. Er wartet einfach darauf, dass es losgeht, genau wie wir.«
    »Ich dachte, hier würden mehr Leute sein«, erwiderte sie und blickte zur leeren Straße hinüber.
    »Ja. Ich auch.« An Bord der Maschine waren vierundneunzig Menschen gestorben. Das bedeutete eine Menge Angehörige und Freunde. Wir beide und dieser Typ da drüben konnten nicht die Einzigen sein, die sich ausgerechnet hatten, dass die Geister der Absturzopfer heute Nacht erscheinen würden.
    Aber Emma war von ihrer fixen Idee nicht so leicht abzubringen. Sie streifte meine Hand ab und machte sich wieder auf den Weg.
    Es war meist besser, Emma ihren Willen zu lassen, sonst kam sie auf noch abstrusere Gedanken. Zudem waren nicht wenige ihrer Einfälle nur auf den ersten Blick absurd. Dann und wann zeigte sich beim zweiten Hinsehen, dass lediglich ihre Methode ungewöhnlich war, ihre Ziele aber durchaus vernünftig. Einigermaßen. Manchmal.
    Ich schluckte meinen Protest herunter und überholte sie mit entschlossenen Schritten, um größere Desaster zu verhindern. Wir waren bis auf zwanzig Meter heran, als der Fremde aus seinem Liegestuhl federte und eine Hand hob.
    »Halt!«, sagte er auf Englisch. Ich schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Durchtrainiert wie ein Läufer, dunkelhaarig, mit eckigem Kinn. Amerikaner, hätte ich wetten mögen.
    Am Kotflügel
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