Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Phantasie und Wirklichkeit

Phantasie und Wirklichkeit

Titel: Phantasie und Wirklichkeit
Autoren: Colin Dexter
Vom Netzwerk:
Tochter selbst, diese
Dodo. Die Kleine war keine Schönheit, und selbst ein normaler junger Mann
(halten Sie mich nicht für unfair!) wurde für ihre Reize erst nach ein paar
Glas Bier in einem schummrigen Pub oder bei Kerzenlicht im Schlafzimmer
empfänglich. Dennoch verbarg sie das, was sie womöglich an Attraktionen zu
bieten hatte, unter einem sackartigen Overall. In höchstem Maße erstaunlich!
Was haben Sie mir sonst noch von Dodo erzählt? Sie war nervös. Sie hatte eine
ziemlich tiefe Stimme. Sie puderte sich zu stark. Sie wußte sehr viel über den
Krieg... (Inzwischen haben Sie bestimmt die Wahrheit erraten.) Ihr Vorname
begann mit einem A, Sie haben sie beim Schallplattenklub so unterschreiben
sehen — mit den sehnigen Fingern eines aktiven Musikers. Aber das war nun eben
nicht mehr erstaunlich. Ihr Name fing tatsächlich mit A an, und Ambrose
Whitaker war, wie wir wissen, ein hervorragender Pianist. Es ging ihr nicht nur
darum, unter der dicken Puderschicht die Narbe an ihrem Kinn zu verdecken,
sondern die Bartstoppeln, die jeden Tag nach wuchsen! Denn Dodo Whitaker war
ein Mann. Und zwar kein x-beliebiger Mann, sondern Ambrose Whitaker.
    Zwei Fragen sind noch offen. Erstens:
Warum mußte Ambrose Whitaker sich als Frau ausgeben? Zweitens: Welche Beziehung
bestand zwischen Ambrose und dem Artillerie-Unteroffizier aus Bodmin? Was den
ersten Punkt angeht, konnte Ambrose natürlich, wenn er sich den weiteren
Schrecken des Krieges entziehen wollte, nicht in Bristol bleiben, dort war er
zu bekannt. Selbst an einem Ort, an dem man ihn nicht kannte, hätte er als Mann
nicht gefahrlos leben können. In Kriegszeiten mußte jeder junge Mann mit
mißtrauischen Fragen rechnen, der den Eindruck eines Drückebergers machte. Er
sicherte sich also zweifach ab bei dieser Täuschung — die für ihn
lebensnotwendig war —, indem er nicht nur nach Oxford zog, sondern sich dort
auch wie eine Frau kleidete und wie eine Frau lebte. Was die zweite Frage
betrifft, brauchen wir vielleicht nicht allzu genau zu untersuchen, warum der
sensible und sehr weiche Ambrose nur zu gern jede Gelegenheit nutzte, seine
Nächte mit dem (pardon!) ziemlich primitiven Whiskysäufer zu verbringen, den
Sie im Krieg kennengelernt hatten. Derlei Spekulationen sind immer ein wenig
degoutant, und mehr möchte ich dazu eigentlich nicht sagen.
    Ich habe die Witwe von Ambrose
angerufen, sie um ein Foto ihres Mannes aus dem Krieg gebeten und Ihre Adresse
angegeben mit der Begründung, Sie seien Archivar und arbeiteten fürs Imperial
War Museum. Ich nehme an, daß Sie in Kürze von ihr hören werden, und dann
wissen Sie soviel oder sowenig über diesen seltsamen Fall, wie wohl je ein
Mensch darüber erfahren wird.
    E. M.
     
     
    Zwei Tage später nahm Wise, noch im
Schlafanzug, einen festen weißen Umschlag in Empfang, der neben einem kurzen
Begleitbrief das Foto eines jungen Mannes in Uniform enthielt — ein Foto, in
dem kein Versuch gemacht worden war, die linke Seite des Porträtierten der
unbestechlichen Linse der Kamera zu entziehen oder den Verlauf der bösen Narbe
zu retuschieren, die sich quer über das Kinn zog. Und als Philip Wise das Foto
genauer betrachtete, sah er in die vertrauten, treulosen Augen von Dodo
Whitaker.

Nachbarschaftshilfe
     
     
    Sed quis custodit
ipsos custodes?
    (Doch wer
wacht über die Wächter?)
    (Juvenal, Satiren)
     
     
    «Einen Kriminellen darf man einfach
nicht zum Helden hochstilisieren!» erklärte Marcus Price, Dozent am All
Souls, leerte sein Bierglas und schaute, während er es zurück auf den Tisch
stellte, auffordernd von einem zum anderen, als wollte er sagen, er selbst habe
die letzte Runde ausgegeben, aber wer bitte sei nun an der Reihe...? «Außer dem
alten Raffles, diesem Gentleman unter den Einbrechern. Erinnern Sie sich an
den?» ließ sich Denis Stockman hören, ebenfalls Dozent in Oxford und Spezialist (die Kapazität sozusagen) für alles, was mit dem Großherzogtum Litauen
im fünfzehnten Jahrhundert zu tun hatte. «Der hat doch die Kronjuwelen oder
irgend so was geklaut», fuhr er fort, «und sie wieder zurückgebracht, nachdem
ihm klargeworden war, was er da an Land gezogen hatte. Aber heutzutage dürfte
es solche Art von Ehrgefühl wohl kaum mehr geben, oder was meinen Sie, Morse?»
    «Nein», murmelte Morse, «wohl kaum.»
    Du liebe Zeit. Aber er war ja selbst
daran schuld. Nur auf einen Sprung hatte er an diesem Mittwochmittag im King’s
Amts Vorbeigehen wollen. Doch dann schien es sich so
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher