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Phantasie und Wirklichkeit

Phantasie und Wirklichkeit

Titel: Phantasie und Wirklichkeit
Autoren: Colin Dexter
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Okay?
    Während Bayley seine Aussage machte,
klappte er nervös die Penguin-Ausgabe von Vergils Aneis auf und zu, und Morse
nahm (wieder mit Abscheu) den tiefsitzenden Schmutz unter Bayleys Fingernägeln
zur Kenntnis.
    «Sie haben in der vergangenen Nacht mit
einer Frau geschlafen?»
    Bayley nickte mit gesenktem Blick.
    «Wir müssen nach ihrem Namen fragen —
mein Sergeant wird Ihre Angaben überprüfen. Sie sehen das ein?»
    Bayley nickte wieder. «Vermutlich. Ja.»
    «Sie haben sie keinen Moment
verlassen?»
    «Ich bin ein oder zweimal aufs Klo gegangen.»
    «Sie gehen mit vielen Mädchen ins
Bett?»
    «So würde ich das nicht ausdrücken,
nein.»
    «Jemals mit... mit der Frau von unten
geschlafen?»
    «Sheila? Nein, nie.»
    «Es mal versucht?»
    «Einmal.»
    «Und?»
    «Sie sagte, wenn wir eine Beziehung anfangen
wollten, müsse es eine zerebrale, keine konjugale sein.»
    «Mit Worten konnte sie also umgehen,
wie?»
    «Das könnte man sagen.»
    «Wann haben Sie zum letztenmal mit ihr
gesprochen?»
    «Vor etwa einer Woche. Wir sprachen
über... sie sprach — über epische Dichtung. Sie... lieh mir dieses... dieses
Buch. Ich wollte es ihr heute... zurückgeben.»
    Lewis sah peinlich berührt weg, als
Tränen Bayleys Augen langsam verschleierten, doch Morse musterte den jungen
Mann ihm gegenüber noch eine Weile länger mit nachdenklichen Blicken.
     
    Unten, im zweiten der beiden im
Erdgeschoß (zusammen mit der Küche) vermieteten Zimmer am Jowett Place Nr. 14,
betrachtete Morse sinnend das Doppelbett, in dem die ermordete Mieterin
vermutlich des Nachts geschlafen hatte. Zwei weiche Kissen verbargen ein
langes, flaschengrünes Nachthemd, das Morse leicht berührte, bevor er das
Federbett im William-Morris-Stil zurückschlug und seine Aufmerksamkeit dem
Laken zuwandte.
    «Kein Hinweis auf nächtliche Emissionen
in der letzten Zeit, Sir.»
    «Sie haben eine vornehme Art, sich
auszudrücken», sagte Morse.
    Das Zimmer war spärlich eingerichtet,
spärlich dekoriert. Ein großer Mahagonischrank nahm neben dem Bett den meisten
Raum ein. Auf dem Nachttisch standen eine Lampe, ein Wecker, ein Kästchen, das
ein halbes Dutzend Stücke billigen Modeschmucks enthielt; daneben lag ein
einziges Buch: Reflexionen über Inspiration und Kreativität, von
Diogenes Small (Macmillan, £ 14.99).
    Morse nahm das Buch und schlug es dort
auf, wo ein blaues Lesezeichen aus Leder ()
hineingesteckt worden war, und las dann ohne erkennbare Begeisterung die mit
gelbem Filzschreiber markierten Sätze laut vor:
     
    Offensichtlich stützt unser Autor sich
auf Charaktere und Vorfälle, die seiner persönlichen Erfahrung entnommen sind.
Das ist unvermeidlich. Das ist lobenswert. Doch immer sind es jene fiktiven Addenda, die die wahre Alchimie bewirken, die unseren erdgebundenen Künstler
erheben und ihn hoch schweben lassen auf den Flügeln von Freiheit und
Kreativität.
     
    «Verdammter Mist!»
    «Wie bitte, Sir?»
    «Beherrscht nicht mal die
Rechtschreibung», murmelte Morse. Lewis nahm das Lesezeichen aus dem Buch.
    «Wo ist Erzincan?»
    «Keine Ahnung. Als ich zur Schule ging,
mußten wir eins von den drei s nehmen: Griechisch, Geschichte oder Geographie.»
    «Und Sie haben sich nicht für
Geographie entschieden...»
    Aber Morse stand schweigend am Fenster
(die Vorhänge waren jetzt zurückgezogen), das auf ein Stück laubbedeckten
Rasens hinter dem Haus ging. Irgend etwas rief tief in ihm eine Erinnerung wach,
wie die Eröffnungsakkorde vom Rheingold, Akkorde, die sich für den
Augenblick jedoch seinem Gedächtnis entzogen.
    Lewis öffnete die Schranktüren; an der
Stange hing eine bescheidene Kollektion von Kleidern und Mänteln, und ein
halbes Dutzend Paare billiger Schuhe stand ordentlich aneinandergereiht auf dem
Boden.
    Von oben hörten Morse und Lewis das
Knarren von Fußbodenbrettern; jemand —es mußte wohl Bayley sein? — ging
ununterbrochen auf und ab. Morse richtete die Blicke langsam zur Decke.
    Aber er sagte nichts.
    Weder das Schlafzimmer noch die Küche
hatten etwas von besonderem Interesse geboten, und Morse war gespannt auf Dr.
Hobsons Bericht, wie vorsichtig er auch formuliert sein mochte, als sie eine
halbe Stunde später aus dem Mordzimmer kam.
    «Sieht nach einem scharfen Messer aus —
zweiter Versuch —, wahrscheinlich von oben eingedrungen. Hat furchtbar
geblutet, wie Sie gesehen haben... na ja, die meisten von uns würden auch so
bluten — wenn ihnen ein Messer durchs Herz gestoßen
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