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Phantasie und Wirklichkeit

Phantasie und Wirklichkeit

Titel: Phantasie und Wirklichkeit
Autoren: Colin Dexter
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Eingangstür, als ich
sie verließ — schlank, elegant gekleidet und jung - na ja, verhältnismäßig
jung.
    Und, ja, ich sollte es zugeben,
ungewöhnlich attraktiv.
    Die Aufgaben, die mir zugewiesen wurden,
konnten gerade eben in die neun Stunden gepreßt werden, die ich wöchentlich in The
Grange verbrachte.
    Aber 36 Pfund waren 36 Pfund.
    Und das war ein Bonus.
    Ahnen Sie, was ich sagen will? Noch
nicht?
    Sie werden es noch ahnen.
    Zwei Teile des Hauses durfte ich nicht
betreten: das Schlafzimmer des Hausherrn (vergessen Sie das Schlafzimmer
nicht!) und das Arbeitszimmer des Hausherrn — letzteres offenbar ein großes
umgebautes Schlafzimmer im oberen Stockwerk, dessen Tür stets fest geschlossen
war.
    Fest ver schlossen, wie ich bald
herausfand.
    Das Arbeitszimmer der Dame des Hauses
war nicht mit einem solchen Embargo belegtem ziemlich neuer Anbau an die
Rückseite des Hauses, eigentlich ein halbes Gewächshaus, dessen Regale,
Tischflächen und Fußboden mit Büchern vollgestellt und mit losen Papieren und
Manuskripten übersät waren. Und Dutzende von Zimmerpflanzen kämpften um ein
wenig Lebensraum.
    Ich war jedesmal fasziniert von dem
Zimmer, wenn ich vorsichtig (zu vorsichtig) die Pflanzen goß, die Bücher
alphabetisch ordnete, aus unordentlichen Stapeln ordentliche machte, vorsichtig
(zu vorsichtig) mit dem Hoover den Teppichboden absaugte und überall
staubwischte.
    Ich hantiere gern mit einem Staubtuch
herum. Es ist einer der wenigen Jobs, wo man tatsächlich ein Ergebnis sehen
kann.
    Und ich sehe gern ein Ergebnis...
    Nur eines stimmte nicht mit dem Zimmer.
    Die Katze.
    Ich verabscheue alle Katzen, besonders
aber diese, einen Kater, der mich gelegentlich mit mysteriösen, wissenden,
aristokratischen, potentiell grausamen Blicken musterte.
    Wie seine Herrin.
    Eine kleine Klappe, die sich in zwei
Richtungen öffnen ließ, war in die Tür vom Gewächshaus in den Garten hinter dem
Haus eingebaut worden, durch diese kam und ging (ha-ha!o), der
häufig dreckverklebte Pfoten hatte. Aber Gott segne dich, Boswell!
     
    Ich war überzeugt, daß Mrs.
Spencer-Gilbey meinem einzigen Zeugnis nicht nachgegangen war, da sie mich von
Anfang an Virginia> nannte, ohne eine Spur von Argwohn.
    Ich für meinen Teil nannte sie
, was sich auf reimt. Es war fünf Silben kürzer als
eine förmlichere Anrede, und ich glaube, der königliche Beiklang gefiel ihr
irgendwie.
    Früh am Morgen des Mittwochs in meiner
dritten Woche hörte das dilettantische Geklapper der Schreibmaschine im
Gewächshaus auf, und meine Arbeitgeberin kam ins untere Wohnzimmer, um mir
mitzuteilen, daß sie für zwei Stunden weggehen müsse.
    Der Zeitpunkt meines ersten kühnen
Schachzugs war gekommen.
    Ich nahm einen in Leder gebundenen Band
aus dem Bücherregal neben mir und pustete eine kleine Staubwolke durch die
goldene Hohlkehle am oberen Rand seiner Seiten.
    «Soll ich die Bücher mit einem
Staubtuch abwischen?»
    Ein paar Sekunden lang glaubte ich
einen fast an Haß grenzenden Ausdruck in ihren kalten grauen Augen zu sehen.
    «Wenn Sie sie alle genauso wieder
einräumen können, wie Sie sie vorgefunden haben.»
    «Ich will’s versuchen, Ma’am.»
    «Versuchen Sie’s nicht. Tun Sie
es!»
    Es würde ein harter Job werden.
    Bücherregale bedeckten drei ganze Wände
des Zimmers. Im Lauf des Vormittags machte ich eine Kaffeepause in der Küche.
    Draußen im Garten sah ich den
fettsteißigen Gelegenheitsarbeiter, der dann und wann auftauchte — gewöhnlich,
wenn ich ging —, um ein paar Dinge zu reparieren, wie ich annahm.
    Ich hielt meine Tasse ans Fenster und
fragte ihn mit den Augen, ob er mir Gesellschaft leisten wolle.
    Seine Augen antworteten ja, und ich
sah, daß er jünger war, als ich gedacht hatte.
    Auch besser aussehend.
    Ich fragte ihn, wie gut er ihre
Ladyship kenne, aber er zuckte nur mit den Schultern.
    «Sie schreibt ein Buch, wußten Sie
das?» fragte ich.
    «Tatsächlich?»
    Er nahm einen Schluck Kaffee, und ich
sah, daß seine Hände, obwohl schmutzig, nicht die eines Arbeiters waren.
    «Über Sir Thomas Wyatt», fuhr ich fort.
«Ich habe nachgesehen, als ich staubsaugte.»
    «Tatsächlich?»
    Sein Wortschatz schien recht begrenzt
zu sein, aber er ließ seine Blicke ausgiebig über mich schweifen, und er
lächelte merkwürdig faszinierend.
    «Ich nehme an, Sie wissen nicht
allzuviel über Sir Thomas Wyatt?»
    Er zuckte wieder mit den Schultern.
«Nicht viel. Aber wenn Sie mir mittcilen wollen, daß er 1542
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