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Pferdekuss

Pferdekuss

Titel: Pferdekuss
Autoren: Christine Lehmann
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jemand das Auto da unten im Obstbaum bemerkte und die Polizei anrief. Ich soll halb erfroren auf der Wiese gelegen haben. Man vermutete, dass ich trotz eines gebrochenen Beines und blind von Blut und Glasscherben aus dem Wagen gekrochen war, um zur Straße zu gelangen und Hilfe zu alarmieren. Ich erinnere mich nicht. Ich kam erst im Katharinenhospital in Stuttgart wieder zu Bewusstsein. Der Hubschrauber hatte mich dorthin gebracht, weil man glaubte, meine Augen seien nur noch durch einen Spezialisten zu retten. Aber die Windschutzscheibe hatte nur meine Gesichtszüge zerschnitten. Inzwischen verblassten die Narben. Störend war noch der lange Schnitt vom linken Nasenflügel in den Mundwinkel. Lange Zeit glaubte ich, dass die Ärzte mich belogen hätten, als sie behaupteten, Todt wäre auch dann nicht mehr zu retten gewesen, wenn der Notarzt sofort zur Stelle gewesen wäre. Zuweilen fragte ich mich, ob es wünschenswert wäre, dass ich mich an den Unfall erinnerte.
    Ein GTI röhrte an mir vorbei. Ich ließ Emma wieder anrollen. Die Dächer von Vingen tauchten auf. Der Zwanzigtausendeinwohnerort mit Tankstelle und holzverarbeitendem Betrieb am Eingang zentrierte sich um eine festungsartige protestantische Kirche, das Fachwerkrathaus und das Kriegsgefallenendenkmal in der Kehle zwischen Roßberg und Hoher Warte. Die Fußgängerzone war in den späten Siebzigern mit einem Betonkomplex aufgerüstet worden, der Volksbank, Drogeriemarkt und Mode enthielt. Neu waren die Tempo-30-Schilder beim Hotel König im Dorfkern. Gegenüber, an der Flanke des Arstals, klotzte noch immer die alte Fabrik Gallion Obstsäfte. In den Fünfzigern hatte Gallion alle Obstbauern der Gegend unter Vertrag genommen, in den Sechzigern raubte ihnen die Fabrik bereits das Grundwasser, in den Achtzigern wurde das Obst dann aus Spanien und Griechenland importiert. Anfang der Neunziger hatte Juniorchef Todt Gallion versucht, auf ökologische Produktion umzustellen, ohne großen Erfolg, während sein Vater sich endgültig der Pferdezucht widmete, mit wesentlich größerem Erfolg. Heute wurden die Stadtkinder mit anderen Apfelsäften groß. Die Fabrik betrieb inzwischen ein Verwandter von Gallions verstorbener Frau, der sich der Ökologie verschrieben hatte und den Bauern und Kleingärtnern das Fallobst versaftete.
    Das Gestüt Gallion entzog sich hinter der Bergnase der Hohen Warte im Arstal gen Eningen dem direkten Einblick von Vingen aus. Ich hatte meine Kindheit in einer Neubausiedlung für Deutschstämmige aus dem Ostblock verbracht, die nach dem Krieg dem strammen Pietismus dieser Landschaft mit ihrem Katholizismus zu Leibe rückten. Nur deshalb besaß Vingen neben der Stephanskirche auch eine katholische Kirche, die zur Wirkungsstätte meiner Mutter geworden war. Inzwischen gehörte die Reihenhaussiedlung, in der mein Elternhaus stand, zum Altenteil von Neu-Vingen. Ein Teil des Hangs unter der Hohen Warte war für Villen der Pendler nach Stuttgart erschlossen worden. Straßen mit Vogelnamen fraßen sich in den Wald vor. Es schien mir alles sehr eng. Die Bäume waren groß und alt geworden, die Straßenränder zugeparkt. Endlich passierte es: Ich fuhr am Haus meiner Mutter vorbei, musste wenden und nach den Hausnummern Ausschau halten.
    Meine Mutter war seit siebzehn Jahren verwitwet, trug Schwarz aus Überzeugung und hatte mich noch nie umarmt.
    Sie sah auch jetzt keinen Anlass dazu. Ihre Hand war trocken und knochig, ihr Gesicht zusammengehäkelt aus Scharfsinn und Demut. Ihre grauen Augen entdeckten alle Sünden, die ihre Mitmenschen bei der Beichte verschwiegen, ihre Lippen stülpten sich ein und aus, um moralisch zu rechten, und ihr hagerer Leib warf sich gerade auf wie ein Prügel. Mich verblüffte nur, dass sie kleiner war, als ich sie in Erinnerung hatte.
    »Schön«, sagte sie, »dass ich dich vor meinem Tod noch einmal sehen darf.«
    »Aber sonst geht’s dir gut, ja?«
    »Gott sei es gedankt.«
    Am liebsten hätte ich gleich auf den roten Läufer in der gelblich gekachelten und ockerfarben tapezierten Diele gekotzt. Gerüche vergisst man nicht. Da stachelt die Erinnerung Gift in die Blutbahn. Es roch nach alten Strümpfen, erkalteter Rinderbrühe und Kloseife, genauso wie an dem Tag, als mein Vater, der in Reutlingen einen Autohandel betrieb, sich auf die ockerfarbene Plüsch couch in der Stube legte und entschlief. Am Abend deck te meine Mutter ihn mit einem Laken zu. So blieb er liegen, bis ihn des Morgens das Beerdigungsinstitut
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