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Pferdekuss

Pferdekuss

Titel: Pferdekuss
Autoren: Christine Lehmann
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Hundegebell.
    Ich nahm das Holzkreuz von der Wand und legte es in die leere Schublade meines Kinderschreibtischs. Die geschnitzte Madonna mit dem nackten Riesenbaby auf dem Arm konnte auf der Sockenkommode stehen bleiben. Vom Kopfkissen aus hatte ich einst das verzückte Ge sichtchen vor Augen gehabt, wenn ich unter der Bettde cke verbotene Manipulationen an mir vornahm.
    Die Kirche meiner Mutter war aus Beton und hatte ein knallbuntes Fenster, das den heiligen Georg beim Drachentöten darstellte. Sie lag am Alten Backhaus zwischen Alt- und Neu-Vingen. Die Blumen auf dem Grab meines Vaters hinter der Kirche bewiesen, dass meine Mutter jeden Tag auf den Friedhof ging. Seit siebzehn Jahren war mein Vater für mich nur noch ein Kreuz. Als meine Mutter losging, um sich den vom Grab meines Vaters geklauten Topf Margeriten zwei Gänge weiter vom Grab der Schäufeles wiederzuholen, verabschiedete ich mich. »Und warte mit dem Essen nicht auf mich.«
    »Wie du meinst.«
    Vingen war ein Erbteilungsdorf. Häuser und Häuschen, oft nicht breiter als eine Haustür und ein Stalleingang, reihten sich an den Gassen wie schiefe Zähne in einem Kindergebiss vor der Zahnregulierung. Es roch nach Kuh. Ein Misthaufen dampfte. Reichtum wurde versteckt. Am Albgürtel lebten heute die meisten Multimillionäre der Republik. Die Fußgängerzone verdankte Friedrich Gallions Spendierhosen das Schmuckpflaster und das Kriegsgefallenendenkmal. Unter demselben schwarzen Marmor lagen auf dem Friedhof hinter der Stephanskirche Todt Gallion und seine Mutter Karola Gallion, geb. von Sterra.
    Ich setzte mich in die neue Pizzeria in der Fußgänger zone. In den Wühlschalen vor Schlecker probierten Mä dels Parfüm. Zwei Frauen mit Lauchstangen in den Einkaufsbeuteln unterhielten sich an der Ecke. Mich schützten Narbe, Kurzhaarschnitt und Herrenjackett davor, erkannt zu werden. Aber mir fehlte auch ein Fremder an meiner Seite, dem ich lächelnd die Ecken meiner Kindheit hätte erklären können.
    »Dort, wo diese popelige Festhalle steht«, hätte ich Richard beim Spaziergang am Waldrand unter der Hohen Warte erklären können, »dort war früher der Bauernhof, wo ich zum ersten Mal vom Pferd gefallen bin.«
    Richard konnte nicht reiten. Sein Interesse wäre begrenzt gewesen. Er würde die Plakate fürs Kinderfest hinter den Festhallenscheiben lesen. »Es war ein Glück für mich«, könnte ich im Gegenwind der Erinnerung fort fahren, »dass zwischen meinem zwölften und sechzehn ten Lebensjahr der Autohandel meines Vaters in Reutlingen in die selbstverschuldete Krise geriet.«
    Mein Vater bereitete sich auf seinen Herzinfarkt vor, und meine Mutter suchte an seinen Hemden nach Lip penstiftspuren und Parfümduft, um ihm Verhältnisse mit den stets wechselnden Büroschreibkräften zu beweisen. Das hielt beide davon ab, sich darum zu kümmern, wo ich meine Nachmittage verbrachte. Ich mistete Ställe aus und striegelte Haflinger und Norweger, in der Hoffnung, dass die Mädels, denen die Pferde gehörten, mich auch mal reiten ließen. Dann legte sich mein Vater zum Sterben hin und meine Mutter steckte mich in eine Sekretärin nenschule. Von meinem Gehalt bei Gallion Obstsäfte konnte ich mir dann eine Reitbeteiligung leisten. Ich zahlte hundert Mark im Monat und ritt den Welsh Cop der Bäckerstochter, die sich mehr für Jungs denn für ihr Pferd interessierte. Vier Jahre lang gurkte ich mit Sandy über die Felder und durch den Wald, lernte, einem von galoppsüchtiger Hand gequälten Pferd Vertrauen in mich beizubringen, und träumte davon, eines Tages einen von den Shagya-Arabern zu besitzen, die in dem Gestüt hinterm Vorsprung der Hohen Warte gezüchtet wurden.
    Eines Abends traf ich einen dieser Reiter aus dem Gestüt am Wasserwerk beim kleinen Stausee. Sein junger Trakehner-Rappe Satan war mit der Hinterhand in eine Rolle Draht geraten, die an einer Baugrube neben dem Wasserwerk herumlag. Er konnte das panikbereite Pferd nicht gleichzeitig am Kopfzeug ruhig halten und seine Hinterhufe aus dem Draht befreien.
    »Es war wie Dornröschen«, würde ich nicht Richard, sondern Sally erzählen. »Todt Gallion hatte Augen und Locken so schwarz wie sein Rappe.«
    Sally würde kichern und ihre blonden Locken schütteln. Sie war erpicht auf Geschichten über Arm und Reich.
    »Allerdings kam ich, die Prinzessin, um ihn zu erlösen. Sein Satan hätte sich sonst die Schlagadern am Draht aufgerissen. Damals wusste ich noch nicht, dass Todt von seinem Vater verhext
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