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Pferdekuss

Pferdekuss

Titel: Pferdekuss
Autoren: Christine Lehmann
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seinen Sohn genommen hat.«
    »Er saß am Steuer, nicht du. Und inzwischen bist du nicht mehr die kleine Sekretärin mit Dauerwellen. Du bist eine … eine … ähm …«
    Richards Wortkunst versagte vor der Aufgabe, meine Erscheinung und mein Auftreten in die Begriffe zu fassen, die er eigentlich von Frauen hatte, entweder anschmiegsam oder elegant und karrieregeil. Vermutlich konnte er nur deshalb nicht von mir lassen, weil er noch keine Definition gefunden hatte. In Ermangelung warmer Worte suchte sein milchkaffeebrauner Blick, mich aufzurichten, von den Jeans über den Gürtel, das Joop-Hemd und den Blazer bis in die Spitzen meiner braunblond gefärbten Kurzhaare. Das können sie, die Männer, wenn es sein muss: mit ein paar kurzentschlossenen Komplimenten eine Frau aus den Selbstzweifeln scheuchen, bevor sie anfängt, das Aber ins Unendliche auszudifferenzieren und ihm den Abend mit Muscheln und Seezunge zu verderben. Richard wollte nachher lieber von einem übermütigen Fohlen zum Spiel aufgefordert werden als eine lahmende Stute animieren.
    »Außerdem«, sagte er, »was sind schon drei Tage? Du fährst da morgen hin, trinkst mit deiner Mutter Kaffee, gehst Freitag früh dem Alten gratulieren, machst Samstag mit deiner Mutter einen Ausflug und bist Sonntagmittag wieder daheim. Deine Mutter ist zufrieden, Gallion hat seine Genugtuung und du weißt, dass du es überleben kannst.«

2
     
    Die Reisetasche packte ich trotz tagelanger Planung erst am Morgen in aller Eile. Keine Reithose, kein Nadelstrei fenanzug mit Weste und Krawatte, dafür das graue Lei nenkostüm mit den roten Webstreifen, Seidenshirt und -bluse, Pomps, am Leib die Jeans, das T-Shirt und das Jil-Sander-Jackett. In Stuttgart-Degerloch tankte ich Emma voll, bedachte zufrieden, dass mein Golf Cabriolet gerade erst in der Inspektion gewesen war, und schlug das Verdeck zurück. Es war Anfang Juni und hochdruckbeständig und warm. Ich vergewisserte mich, dass mein Handy empfangsbereit war, und wagte mich dann auf der Schnellstraße gen Süden hinaus aus der Stadt. Vorsorglich hatte ich die Landkarte konsultiert, als ob ich den Weg nicht im Schlaf kennen würde. Zunächst unter der Münchner Autobahn durch Richtung Tübingen und Reutlingen, dann in der Einspurigkeit Richtung Reutlingen, Metzingen auf die blaue Front der Schwäbischen Alb zu. Neckartailfingen, Neckartenzlingen, Bempfingen. Es ging viel zu schnell. Auch in Metzingen gelang es mir nicht, mich zu verfahren. Lauthals zogen die Tafeln den Ver kehr durchs Städtchen Richtung Urach. Vor dem Albtrauf, dem Anstieg in den Riegel der Schwäbischen Alb, die sich mit dem Hohen Neuffen, dem Roßberg, der Hohen Warte und dem Grasberg quer stellte, musste ich rechts ab, runter von den Hauptschlagadern des Unterwegsseins, hinein in die Kapillaren über Land. Immer noch das Schild an der Hauswand, auf die man zuhielt: Vingen fünf Kilometer. Die Straße schlängelte sich raus in Obstbaumwiesen.
    Ich hätte Vingen auch von der anderen Seite über Reutlingen und Eningen anfahren können, aber besser, ich stellte mich dem Schrecken gleich. Unter der Mittagssonne über der Wand der Alb hatte das Sträßchen keine Ähnlichkeit mit der Herbstnacht meiner letzten Erinnerung: Dunkelheit und Raureif, heranspringende kahle Obstbäume, Erlkönige. Wir kamen von einem Konzert in Stuttgart. Todt pflegte zu rasen, wenn er verärgert war. Die Polizei zeigte mir später ein Foto von dem völlig zermatschten Porsche. »Ein Wunder, dass Sie da überhaupt rausgekommen sind.« Nach ihren Berechnungen waren wir mit mindestens hundert aus der Linkskurve geschossen.
    Ich hielt Emma an.
    Hier müsste es gewesen sein. Da die Böschung runter. In der Wiese hatten wir uns mehrmals überschlagen. Zwanzig Meter von der Straße entfernt waren wir in ei nen Birnbaum gekracht, vielleicht in den da unten. Ein Ast durchbohrte Todts Hals.
    Junihitze dampfte aus der Wiese. Vögel zwitscherten von Baum zu Baum. Mehr als siebzig konnte man auf dieser welligen Straße nicht fahren, die durch die Obstwiesen kurvte. Friedlich schwangen sich die Wiesen zur Ars hinab und stiegen dahinter sanft hinauf in die Ebene gen Norden. Linker Hand blockte der bewaldete Hang vor dem Roßberg mit seinen Jurakalkfelsen am oberen Grat. Der Blick auf Vingen war von Bäumen verstellt.
    Wahrscheinlich war kein weiteres Fahrzeug an unserem Unfall beteiligt gewesen. Es hatte gedauert, bis man uns fand. Nach Aussagen der Ärzte war Todt bereits eine Stunde tot, als
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