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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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Unhöflichkeit hast du von qallunaaq gelernt.
    So machen wir unseren Weg, und ich bin wieder wach. Ich weiß, wir müssen es schaffen; ich bin schon seit langem so schwer, daß sie mich nicht mehr tragen kann.
    Ich bin siebenunddreißig Jahre alt geworden. Vor fünfzig Jahren war das in Thule ein ganzes Lebensalter. Aber ich bin nicht erwachsen geworden. Ich habe mich nie daran gewöhnt, allein zu gehen. Irgendwo in meinem Inneren hoffe ich, daß jemand hinter mich tritt und mich anstößt. Meine Mutter. Moritz. Eine Kraft von außen.
    Fast stolpere ich. Ich stehe am Gletscher. Hier haben sie haltgemacht. Sie haben die Steigeisen an die Stiefel geschnallt.
    So aus der Nähe gesehen wird sein Name verständlich. Der Wind hat seine Oberfläche zu einer kompakten, glatten Decke ohne Unregelmäßigkeiten abgeschliffen, wie eine weiße keramische Glasur. Unmittelbar vor mir schiebt er sich über einen Absturz von ungefähr fünfzig Metern hinaus. Hier ist die Oberfläche von einem Eisfall gebrochen worden. Ein System aus grauen, weißen und graublauen Treppen. Von weitem sieht man ihre Regelmäßigkeit, doch wenn man näher kommt, bilden sie ein Labyrinth.
    Ich weiß nicht, wie sie den Weg gefunden haben. Sie sind nicht zu sehen. Ich fange also an zu gehen. Die Fährte ist jetzt schwerer zu verfolgen. Aber nicht unmöglich. Auf den waagerechten Treppenstufen ist der Schnee liegengeblieben. Dort haben sie Abdrücke hinterlassen. Irgendwann habe ich die Richtung verloren und fange an im Halbkreis zu gehen, bis ich von weitem ein gelbes Zeichen aus Urin sehe.
    Nach und nach kommen Halluzinationen, Bruchstücke von Gesprächen. Ich sage etwas zu Jesaja. Er antwortet. Der Mechaniker ist auch da.
    »Smilla.«
    Ich bin einen Meter von ihm entfernt an ihm vorbeigegangen, ohne ihn zu sehen. Es ist Tørk. Er hat auf mich gewartet. So sanft hat er mich gerufen. Wie damals, als er mich angerufen hat, die letzte Nacht in meiner Wohnung.
    Er ist allein. Er hat keinen Schlitten und kein Gepäck. Er sitzt so farbenfroh da. Die gelben Stiefel. Die rote Jacke, die auf den Schnee um ihn herum einen rosa Schein wirft, das türkisfarbene Band um die blonden Haare.
    »Ich wußte, daß du kommst. Aber ich wußte nicht, wann. Ich habe dich über das Wasser gehen sehen.«
    Als seien wir die ganze Zeit über Freunde gewesen, hätten das aber vor der Umwelt verbergen müssen.
    »Es hat eine Eisschicht.«
    »Davor bist du durch verschlossene Türen gegangen.«
    »Ich hatte einen Schlüssel.«
    Er schüttelt den Kopf.
    »Bei Menschen mit Ressourcen passieren die richtigen Dinge einfach. Sie sehen aus wie Zufälle. Doch sie entstehen aus der Notwendigkeit. Katja und Ralf wollten dich schon in Kopenhagen bremsen. Aber ich habe deine Möglichkeiten gesehen. Du würdest uns zeigen, was wir übersehen hatten. Was Ving und Loyen übersehen haben. Was man immer übersieht.«
    Er reicht mir einen Sitzgurt. Ich trete hinein und schließe ihn vorn.
    »Aber die Nordlicht«, sage ich, »der Brand?«
    »Licht hat Katja angerufen, als er das Band bekommen hatte. Er hat versucht, Geld zu erpressen. Wir mußten etwas tun. Daß auch du mit hineingezogen worden bist, war mein Fehler. Ich habe es Maurice und Verlaine überlassen. Verlaine hat diesen primitiven Haß auf Frauen.«
    Er gibt mir das Ende des Seils. Ich mache eine Achterschlinge. Er reicht mir ein kurzes Eisbeil.
    Er geht voran. Er hat einen langen, dünnen Stock. Damit tastet er den Boden nach Spalten ab. Als er fünfzehn Meter weit weg ist, redet er. Die blanken Wände um uns sorgen für eine Akustik wie in einem Badezimmer. Hart und trotzdem intim, als säßen wir zusammen in der Badewanne.
    »Ich hatte selbstverständlich gelesen, was du geschrieben hast. Diese Leidenschaft für das Eis macht einen nachdenklich.«
    Er preßt sein Eisbeil in den Schnee, legt das Seil darum und holt vorsichtig ein, während ich ihm folge. Als ich seinen Standplatz erreiche, redet er wieder.
    »Was sagt die Sachverständige zu diesem Gletscher?«
    In der zunehmenden Dunkelheit sehen wir uns um. Die Frage ist schwer zu beantworten.
    »Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Hätte er die zehnfache Fläche gehabt, hätten sie ihn als eine sehr kleine Eiskappe klassifizieren können. Hätte er niedriger gelegen, hätten sie gesagt, es sei ein Botugletscher. Wären Strömungs- und Windverhältnisse etwas anders gewesen, hätte das Eisgestöber, die Deflation ihn im Laufe eines Monats so kräftig reduziert, würden sie sagen, hier
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