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Perlensamt

Perlensamt

Titel: Perlensamt
Autoren: Barbara Bongartz
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und denke an damals.
    Damals hatte als kindlicher Blick auf eine leere Straße begonnen und geendet als Feuerball, aus dem in hohem Bogen ein Mensch geschleudert worden war. Vielleicht auch zwei oder drei oder ein halbes Dutzend. Manchmal hatten meine Träume aus dieser Erinnerung einen brennenden Menschenregen gemacht, ein Inferno an einem strahlenden Tag im Mai. Langenfeld 1958. Ein kleiner Amerikaner in der westdeutschen Provinz. Meine Mutter sagte mir später, es sei ein Montag gewesen. Eigentlich hätten wir nur bis Sonntag in Langenfeld bleiben sollen. Aber die Großeltern hatten meine Mutter lange nicht gesehen. Mich kannten sie noch gar nicht und auch nicht Bob, meinen Stiefvater. Sie waren begeistert gewesen von unserer kleinen Familie. So begeistert, daß sie ihre Tochter gar nicht gehen lassen wollten. Das war vier Jahre zuvor noch anders gewesen. 1954 hatte sich meine Mutter davongemacht. Angeblich, um in den Vereinigten Staaten den Mann zu suchen, der sie geschwängert hatte. Vielleicht hätte sie das Projekt nicht ganz so entschlossen verfolgt, wenn man in ihrer Familie nicht so erpicht darauf gewesen wäre, es zu meiner Geburt gar nicht erst kommen zu lassen. Man fürchtete wohl in erster Linie, ich könnte ein schwarzes Baby werden. Es ist dem Trotz meiner Mutter zuzuschreiben, daß ich überhaupt zur Welt kam. Meinen Vater fand sie aber nicht. Sie heiratete einen netten Texaner, der in Brooklyn lebte. Robert Saunders gab erst ihr, dann mir seinen Namen. Dann fuhren wir nach Deutschland. Bob wollte die Heimat meiner Mutter sehen. Von Heimat sprach sie allerdings nie. Rosie, das wurde mir später klar, hatte Deutschland immer verabscheut.
    Die Großeltern versuchten, meine Eltern zum Bleiben zu überreden. In Deutschland ginge es jetzt wieder aufwärts. Sie wollten, erzählte Bob mir später, die obere Etage freiräumen, damit wir bei ihnen wohnen konnten. Rosie, die man nie Mutter nennen durfte, auch nicht Mami und erst recht nicht Ma, dachte noch Wochen später mit Schaudern an diesen Vorschlag zurück. Sie war durch die Heirat mit Bob amerikanische Staatsbürgerin geworden. Nach eigener Aussage fühlte sie sich so, als sei sie es immer gewesen. Sie war schlank. Dürr hatte ihr Vater sie genannt, eine amerikanische Hippe. Sie trug die Haare aufgesteckt. Sie schwärmte für motorisierte Rasenmäher, elektrische Rührgeräte, Staubsauger und Wäschetrockner und zählte ihre Kalorien. Ihre Lippen funkelten rot wie ihre Fuß- und Fingernägel. Sie sprach Deutsch mit amerikanischem Akzent. Sie fand alles lovely und gorgeous und ekelte sich vor dem Fett, das in Deutschland auf den Tisch kam. Nach jedem Essen begann Großmutter zu weinen. Tagelang schaffte sie es, daß wir noch einen weiteren Tag blieben. Mich langweilten diese Wiederholungen, und mir war unbehaglich, denn ich merkte, daß Rosie sich unbehaglich fühlte. Sie wollte weg.
    So kam es, daß ich an der Straße stand. Ich hielt mein Kuscheltier im Arm und wußte nicht, was ich in diesem Teil der Welt sollte. Eigentlich dürfte ich mich an das Ereignis gar nicht erinnern. Ich war kaum vier. Aber ich erinnere mich eben doch. Es war, als hätte mich das Geschehen unter Strom gesetzt und mich für Sekunden etwas sehen lassen, das ein Kind gar nicht begreifen kann.
    Nur wenige Autos fuhren vorbei. Die meisten fuhren in dieselbe Richtung. Bis eines aus der anderen kam. Es schlingerte plötzlich, geriet aus der Spur und prallte mit einem zusammen, das aus der Gegenrichtung kam. Der Himmel färbte sich rot. Menschen flogen durch die Luft. Zumindest ist es in meiner Erinnerung so. Inzwischen bin ich überzeugt, daß der Unfall sich ganz anders abgespielt hat. Das grelle Bild mag gefärbt sein von hilfloser Faszination und ungläubigem Entsetzen. Genauer in Erinnerung geblieben ist mir die Zeit danach. Daß ich tagelang nichts bei mir behalten konnte. Ich übergab mich immer wieder, als würgte ich die katastrophische Erfahrung aus. Vielleicht kulminierte in diesem Unglücksfall auch nur die Aufregung, die ich verspürte, seit wir New York verlassen hatten. Allein die Reise, meine erste überhaupt, hatte dazu geführt, daß meine Wahrnehmung ins Schleudern geriet. Jede Nebensächlichkeit, sofern sie sich nicht täglich wiederholte, wurde zum Ereignis und verschob die Grenzen meines kleinen Universums ein Stück. Dieses Erlebnis schließlich hebelte es aus seiner Verankerung. Der Ablauf selbst war zudem exklusiv. Die handelnden Personen kamen ums
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