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Pension der Sehnsucht

Pension der Sehnsucht

Titel: Pension der Sehnsucht
Autoren: Nora Roberts
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überraschend behände in den Speisesaal.
    »Wer war das denn?« erkundigte sich Percy. Nelly lachte. Gegen ihren Willen schmolz ihre Zurückhaltung.
    »Das war Mr. Leander. Seit zehn Jahren ist er Stammgast bei uns. Früher war er Schauspieler an einer Provinzbühne. Er überrascht mich gern mit Zitaten aus irgendwelchen Schauspielen und wartet immer auf eine passende Antwort von mir.«
    »Fällt Ihnen denn immer etwas Entsprechendes ein?«
    »Zum Glück habe ich mich seit jeher fürs Theater interessiert, und um besser gerüstet zu sein, stöbere ich stets noch ein bisschen in den bekanntesten Dramen herum, wenn Mr. Leander bei uns reserviert.«
    »Gehört das mit zum Service?« fragte Percy spöttisch.
    »Das könnte man sagen.«
    Durch Erfahrung gewitzt, spähte Nelly durch den Raum, um zu sehen, wo das Ehepaar Dobson mit seinen Zwillingen saß. Dann dirigierte sie Percy an einen Tisch, der so weit wie möglich von dieser Familie entfernt stand.
    »Nelly.« Liz eilte auf sie zu, und ihre Augen funkelten eifersüchtig, als sie Percy ausgiebig musterte. »Wilbur hat die Eier gebracht, und sie sind schon wieder so klein. Elsie droht, ihm etwas ganz Fürchterliches anzutun.«
    »Schon gut, Liz, ich kümmere mich darum.« Sie übersah Percys fragenden Blick. »Liz, serviere bitte Mr. Reynolds das Mittagessen. Entschuldigen Sie mich jetzt, Mr. Reynolds, ich werde in einer wichtigen Angelegenheit gebraucht. Wenn Sie Fragen oder Beschwerden haben, schicken Sie nach mir. Ich wünsche Ihnen guten Appetit.«
    Nelly benutzte die Eier als willkommene Gelegenheit, sich von Percy zurückzuziehen, und eilte in die Küche.
    »Wilbur«, sagte sie schadenfroh, als die Tür hinter ihr zufiel, »diesmal bin ich der Schiedsrichter.«
    Am Nachmittag erledigte Nelly tausend kleine Dinge. Die hohe Kunst der Diplomatie und die Fähigkeit, rasche Entscheidungen zu treffen, gehörten mit zu ihrem Beruf. Zum Glück wusste Nelly instinktiv, wie man Menschen behandelte und wen man mit wichtigen Aufgaben betrauen konnte.
    Ohne die Ruhe zu verlieren, diskutierte sie ausführlich mit den Zwillingen der Dobsons darüber, ob es ratsam sei, einen Frosch in die Badewanne zu setzen, und tröstete gleich darauf ein Zimmermädchen, das sich in der Wäschekammer vor Liebeskummer die Augen ausweinte.
    Während Nelly sich Gefühlsergüsse anhörte, Trostworte fand und Urteilssprüche fällte, kreisten ihre Gedanken unablässig um Percy Reynolds. Es war kein Problem, ihm aus dem Weg zu gehen, doch sein Bild folgte ihr überallhin. Ständig schien er bei ihr zu sein, was sie auch tat oder dachte. Er hatte sich in ihr Leben gedrängt, und sie konnte ihn nicht vergessen.
    Verdrossen grübelte sie unentwegt darüber nach, wo er gerade sein mochte oder was er wohl tat. Vielleicht, dachte sie entmutigt, hockt er jetzt gerade in meinem Büro, geht mit der Lupe in der Hand meine Bücher durch und überlegt sich, wo er seine dummen Tennisplätze anlegen kann und ob er die Liegewiese lieber zubetonieren sollte.
    Als es Zeit zum Abendessen war, beschloss Nelly, es ausfallen zu lassen und sich stattdessen einige ruhige Stunden zu gönnen. Erst spät suchte sie den Gesellschaftsraum auf. Fast alle Lampen waren ausgeschaltet, und die Dreimannkapelle, die immer am Samstagabend spielte, hatte bereits ihre Instrumente eingepackt. Nur eine Hand voll Leute saß noch bei ihren Drinks und unterhielt sich leise. Der Abend neigte sich dem Ende entgegen.
    Nelly gestattete sich, ihre Gedanken wieder um Percy kreisen zu lassen. Ich habe zwei Wochen Zeit, um ihn zur Einsicht zu bringen, sagte sie sich. Eigentlich müsste das reichen, um selbst einen hart gesottenen Geschäftsmann von der Richtigkeit meiner Argumente zu überzeugen.
    Zerstreut erwiderte Nelly die Gutenachtwünsche der Gäste, die sich allmählich in ihre Zimmer zurückzogen. Ich habe das Problem von Anfang an falsch angepackt, überlegte sie. Morgen beginne ich mit einer neuen Strategie noch einmal ganz von vorn. Ich werde mich beherrschen und meinen weiblichen Charme einsetzen. Ich kann sehr charmant sein, wenn ich will.
    Nelly erprobte ihr Talent an dem älteren Herrn von Zimmer 224, und ihr Selbstvertrauen wuchs im gleichen Maß wie dessen Verwirrung. In gewissen Situationen, stellte sie fest, kommt man mit einem Lächeln weiter, als wenn man die Krallen zeigt. Ein bisschen Charme, ein gefälliges Aussehen und ein selbstbewusstes, entgegenkommendes Auftreten, dann kann eigentlich nichts mehr passieren. Mit dieser
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