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Payback

Titel: Payback
Autoren: Frank Schirrmacher
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irgendein sozialer Kontakt steht. Aber meine Sehnsucht wird nie erfüllt. Trotzdem suche und suche ich, wenn ich online bin, ohne wirklich zu wissen, wonach ich suche. Es ist, als ob ich an einem Mückenstich kratze, der durch das Kratzen nur noch schlimmer wird.« 23
    Vielleicht registrieren Menschen, die von Berufs wegen mit der Gutenberg-Welt zu tun haben und die Veränderungen beim Akt des Lesens hautnah erfahren, solche Entwicklungen eher und schmerzvoller als beispielsweise die Statistiker und Informatiker.
    Doch wir können der Tatsache nicht mehr aus dem Wege gehen, dass heute alle Bereiche unserer Gesellschaft, die Wissen unterrichten, produzieren, drucken und verbreiten - die Schulen, die Universitäten, Medien und Verlage -, in einer Krise sind.
    Unsere Lage hat, damit kein Missverständnis entsteht, nichts damit zu tun, ob einer gut in Mathe war oder Heines Lyrik versteht. Es handelt sich vielmehr darum, den Dingen nicht mehr gewachsen zu sein. Und nichts ist dafür kennzeichnender als die hilflosen gesellschaftlichen Debatten um Pisa, Bologna, Bildung und lebenslanges Lernen. Unser gesamtes Bildungswesen ist instabil geworden, und in ihrer Hilflosigkeit suchen die für die Vermittlung von Wissen Verantwortlichen in »Zertifizierungen« ihren Ausweg, feste Normen also für jeden Professor und Studenten, so, als handele es sich bei ihnen um Komponenten-Zulieferer für Computer-Hardware.
    Es gibt auf die Krise nicht die naheliegende Antwort, dass Google oder das Internet uns dumm machen. Darin steckt eine enorme Unterschätzung der revolutionären Kraft, die diese Systeme erst ansatzweise entfaltet haben. Nach fünfzig Jahren Fernsehen können wir immerhin noch die Frage stellen, ob Fernsehen uns verblödet. Nach fünfzig Jahren Internet könnte es sein, dass wir die Frage nicht mehr verstehen, nicht, weil wir dumm, sondern weil wir zu anderen Intelligenzen geworden sind. Objektiv stößt die alte Medienkritik hier an ihre Grenzen: Selbst die schlechtesten Texte im Internet haben vermutlich nicht die gleiche verheerende Wirkung wie der Trash im Privatfernsehen oder visuelle Streams im Netz. Wenn es um die Verkrüppelung geistiger und emotionaler Fähigkeit geht, dann bleibt das Billig-Fernsehen bis auf Weiteres ungeschlagener Spitzenreiter.
    Auch Caleb Crain spricht nicht von einer Deformation. Er spricht, wie fast alle, die sich das Bombardement durch die digitalen Signale bewusst machen, von einer Verwandlung. Der Käfer, der einst Gregor Samsa war, ist keine Deformation. Er ist an die Stelle des bisherigen Ichs getreten. Er ist ein Wesen, das sich plötzlich mit acht Füßen, einem dicken Panzer und einer Antenne durch die Welt bewegen muss. »Lesen«, sagt Caleb, verändert den Geist, »aber hier verändert etwas den ganzen Körper«.
    Was passiert eigentlich beim Lesen, und was tut es für die Entwicklung von Menschen?
    Lesen ist nicht nur ein technischer Akt und nicht nur ein geistiger Prozess, sondern gewissermaßen ein Bauauftrag ans Hirn . Die Hirnforschung hat gezeigt, wie Regionen des Hirns, die eigentlich für ganz andere Aufgaben gedacht sind - zum Beispiel Sehen, das Hören oder auch der Geruchssinn -, im Laufe des Heranwachsens des jungen Lesers sich neu miteinander verbinden.
    Das Hirn wächst dabei gewissermaßen über sich selbst hinaus. Und jeder, der Lesen gelernt hat, erinnert sich daran, wie die Lektüre, nachdem man erst an jedem Buchstaben festklebte, schrittweise nicht nur immer intuitiver wurde, sondern wie sich plötzlich auch Raum für die eigene Fantasie und das eigene Ich-Gefühl eröffnen.
    »Das Geheimnis im Herz des Lesens«, schreibt Maryanne Wolf, die Verfasserin des maßstabsetzenden Standardwerks zur Biologie des Lesens, »ist die Zeit, mit dem es dem Gehirn die Freiheit gibt, Gedanken zu haben, die tiefer sind als die Gedanken, die ihm bisher gekommen sind.« 24
    Diese gewonnene Zeit ist keine bloße Poesie, die sich eine leidenschaftliche Leserin erdichtet. In unserem Hirn befinden sich »Verzögerungs-Neuronen«, deren einzige Aufgabe es ist, »die neuronale Übertragung durch andere Neuronen um Millisekunden zu verschleppen. Das sind die nicht zu berechnenden Millisekunden, die in unserem Bewusstsein Linearität und Ordnung schaffen.« 25
    Es ist, mit anderen Worten, die kleine Verzögerung, die unser lineares Denken steuert und uns befähigt, ein Buch zu lesen. Die Verzögerung schafft Überblick und Nachdenklichkeit, sie ist gewissermaßen Papier und nicht
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