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Payback

Titel: Payback
Autoren: Frank Schirrmacher
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kein Risiko-Management, das mir hilft. Und das Schlimmste: Ich weiß noch nicht einmal, ob das, was ich weiß, wichtig ist, oder das, was ich vergessen habe, unwichtig.
    Jeden Tag werde ich mehrmals in den Zustand des falschen Alarms versetzt, mit allem, was dazugehört. Nicht mehr lange, und ich könnte Ehrenmitglied jener wachsenden Gruppe von Japanern werden, die nicht nur systematisch ihre U-Bahn-Station verpassen, sondern mittlerweile auch immer häufiger vergessen, wie die Station überhaupt heißt, an der sie aussteigen müssen.
    Kurzum: Ich werde aufgefressen.
    Das ist eine so bittere wie peinliche Erkenntnis. Man kann ihr auch nicht entrinnen, wenn man den Bildschirm abschaltet. Ständig begegnet man Menschen, die in jeder Situation per Handy texten, E-Mails abrufen, gleich mit ihrem ganzen Laptop anrücken, und immer häufiger höre ich bei Telefonaten dieses insektenhafte Klicken, weil mein Gesprächspartner tippt, während er telefoniert. Jede Sekunde dringen Tausende Informa-tionen in die Welt, die nicht mehr Resultate melden, sondern Gleichzeitigkeiten. Die Ergebnisse von Wahlen werden getwittert. In New York wollte ein Richter einen Geschworenen entlassen, weil herauskam, dass der entgegen der Weisung Hintergründe des Verfahrens gegoogelt hatte. Es stellte sich dann allerdings heraus, dass acht weitere Geschworene das Gleiche getan hatten, worauf gleich das ganze Verfahren ausgesetzt werden musste.
    In Arkansas verschickte ein Geschworener regelmäßig Updates eines Prozesses per Twitter, in Pennsylvania stellte ein anderer Schöffe das noch nicht verkündete Urteil auf seinen Facebook-Account. 2 Jede dieser Informationen wird nicht nur getippt und gesendet, sie muss auch empfangen und gelesen werden.
    Die neue Gleichzeitigkeit von Informationen hat eine Zwillingsschwester, die wir »Multitasking« getauft haben.
    Wir alle, die wir auf die gläsernen Bildschirme starren, sind Menschen bei der Fütterung; wie die stolzen Besitzer von Terrarien, die Nahrungswolken auf die unsichtbaren Tiere in ihren Glaskästen herabregnen lassen. Es ist eine Eile dabei, als könnte etwas verhungern. Ich habe das Gefühl, dass die Menschen, die ich kenne, immer schneller erzählen, gerade so, als könnten sie nicht damit rechnen, dass genug Zeit bleibt, ihnen zuzuhören, weil die Informationskonkurrenz so gewaltig ist.
    Dass es anderen auch so geht wie mir, ist beruhigend. Und sehr beunruhigend zugleich.
    In meinem E-Mail-Postfach findet sich seit ein paar Tagen die Nachricht des Herausgebers einer amerikanischen Literaturzeitschrift. Er beklagt, dass seine Doktoranden nicht mehr in der Lage zu sein scheinen, die Romane William Faulkners zu lesen. Und dann fügt er leicht klagend hinzu, dass auch er nicht mehr die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts liest, weil er an die Schnelligkeit und Zugänglichkeit verschiedenster Informationsquellen gewöhnt ist.
    Wir Informationsüberladenen sollten uns bekennen.
    Der Philosoph Daniel Dennett hat das Genre der intellektuellen Selbstbezichtigung unlängst in einem Artikel für die »New York Times« wunderbar neu belebt. Und von ihm können wir lernen: »Wir sind keine Minderheit, wahrscheinlich sind wir die leidende Mehrheit.« 3 Wir sind überall. Wir könnten Ihre Brüder und Schwestern oder Ihre Töchter und Söhne sein. Wir sind Krankenschwestern und Ärzte, Polizisten und Lehrer, Journalisten und Wissenschaftler. Wir sind auch schon in den Kindergärten und Schulen. Und es kommen täglich mehr dazu.
    Es ist ein Prozess ohne Beispiel. Und es ist ein Prozess, in dem nicht Dummheiten, sondern Intelligenzen miteinander konkurrieren. Wenn es um Dummheit und Zeitverlust ginge, um Entwürdigung von Mensch und Intelligenz, um die Aushöhlung der besten Seiten im Betrachter, dann reicht ein Blick in die Boulevard-Formate des Privatfernsehens. Gemeinsam mit IBM hat der amerikanische Kommunikationswissenschaftler Clay Shirky den geistigen Aufwand ziemlich genau beziffert: Das gesamte Wikipedia-Projekt, so Shirky, jede Zeile in allen Sprachen akkumuliert 98 Millionen Stunden menschlichen Denkens. Das ist eine gigantische Zahl. Sie relativiert sich aber, wenn man sich klarmacht, dass allein an einem einzigen Wochenende sämtliche Fernsehzuschauer der USA addiert 98 Millionen Stunden reine Fernsehwerbung sehen. 4 Die 98 Millionen Stunden Wi kipedia sind das, was Shirky »kognitiven Mehrwert« nennt.Wer über das digitale Zeitalter redet, redet nicht nur über ein Medium. Er redet
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