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Paul, mein grosser Bruder

Paul, mein grosser Bruder

Titel: Paul, mein grosser Bruder
Autoren: Hakan Lindquist
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hat er vielleicht ... «
    »Hat er vielleicht was ?«
    Mama seufzte. »Na, ich weiß auch nicht. Vielleicht hast du es schon mal selbst gemerkt. Daniel ist wohl kaum das, was man gemeinhin einen glücklichen Menschen nennt. Ich meine, er ist ja ziemlich oft niedergeschlagen. Fast schon depressiv. Und Paul war ziemlich oft bei Daniel. Vielleicht fiel es Paul dann leichter, über etwas zu sprechen, was ihn bedrückte, wenn er mit Daniel zusammen war. Ich meine, vielleicht herrschte bei Daniel eine solche Stimmung. Eine Stimmung, die es einem leichter macht, über bedrückende Gedanken, über erdrückende Gedanken zu sprechen.«
    »War Daniel auch traurig, als ihr jung wart ?« , fragte ich.
    »Daniel ist schon immer etwas schwermütig gewesen. Das liegt wohl in seiner Natur, nehme ich an. Aber ich habe ihn immer leiden können. Sehr sogar.«
    »Weshalb ist er traurig ?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Also wirklich, Jonas. Das musst du Daniel schon selbst fragen. Wenn du es denn um alles in der Welt wissen möchtest. Ich möchte jetzt nicht hier sitzen und über ihn und seine Gefühle reden. Das wäre so, als würde ich tratschen. Das verstehst du doch ?«
    »Schon .«
    Wir saßen eine Weile schweigend da. Aus dem Wohnzimmer hörten wir die Erkennungsmelodie irgendeiner Fernsehserie. Ich schaute aus dem Küchenfenster und dachte an meinen Traum.
    »Interessierte Paul sich für Schmetterlinge ?« Mama lachte auf. »Lieber Jonas, du hörst nie auf, mich zu überraschen. Wie kommst du denn darauf ?«
    Ich lächelte etwas verlegen. »Ich habe so was geträumt .«
    Sie streckte die Hand aus und streichelte mir die Wange. »Du bist mir schon einer«, sagte sie.
    »Aber ich glaube nicht, dass er sich besonders für Schmetterlinge interessierte. Er interessierte sich für alles, was sich in der Natur bewegte: Säugetiere, Pflanzen, Vögel, eklige Insekten und Wale. Und sicherlich auch für Schmetterlinge.« Sie stand auf. »Was war das für ein Traum ?«
    »Ich habe geträumt, dass Paul in meinem Zimmer war. Und im Traum fragte ich ihn, wovon er geträumt hat, und da antwortete er, von Schmetterlingen. Das ist alles. Dann bin ich aufgewacht. Nein, das stimmt nicht. Dann öffnete er das Fenster und Tausende von Schmetterlingen flogen in mein Zimmer .«
    Mama lächelte etwas wehmütig. »Was für ein schöner Traum.«
    »Was, meinst du, könnte Paul so traurig gestimmt haben ?«
    »Das weiß ich nicht .«
    »Hast du ihn denn nie traurig gesehen ?«
    »Natürlich habe ich das. Aber das war kein Dauerzustand. Nichts, das immer wiederkam. Überhaupt nicht. Aber sicher, ich habe ihn auch traurig erlebt.«
    Dann schien sie einen Gedanken zu haben.
    »Ja, natürlich. Paul ist in der letzten Nacht traurig gewesen. Ich erinnere mich wieder. Seltsam. Ich hatte es schon fast vergessen .«
    »Was? Weswegen war er traurig ?«
    »Er hatte irgendeinen Albtraum«, erzählte sie.
    »Sein Weinen hat mich aufgeweckt. Deshalb ging ich in sein Zimmer. Als ich hineinkam, bemerkte ich, dass er im Schlaf weinte. Er war nicht wach. Ich setzte mich auf die Bettkante und flüsterte ihm etwas Tröstendes zu. Seinen Namen, glaube ich. Und da wachte er auf. Ach, wie bekümmert er war. Wie ein kleines verlassenes Kind. Ich fragte ihn, warum er weinte. Und er sagte: ‚Ich habe so schrecklich geträumt .‘ Ich erinnere mich, dass ich ihm die Tränen von den Wangen gewischt und ihn gefragt habe, was er denn geträumt hatte .«
    Mama hatte selbst Tränen in den Augen. Ich beugte mich vor und ergriff ihre Hand.
    »Was hat er geantwortet ?«
    »Er sagte, ‚Ich habe geträumt, dass mein Schloss abgebrannt ist .‘ Genau. Das hat er gesagt. ‚Ich habe geträumt, dass mein Schloss abgebrannt ist, und alle, die darin wohnten, sind verbrannt .‘ « Dann weinte Mama.
    Ich hielt ihre Hand und flüsterte. »Aber, aber.« Die Konturen ihres Gesichts wurden durch meine eigenen Tränen verwischt.
    Papa kam in die Küche.
    »Was ist denn los, Liebling ?« , fragte er besorgt und ging neben Mama in die Hocke.
    »Ach, nichts«, schluchzte sie. »Ich habe an Paul gedacht. Und ich ... ach, es ist nichts.«
    Papa seufzte und starrte mich an.
    »Müsst ihr denn über ihn sprechen ?« , fragte er.
    »Wir haben doch nur...«, setzte ich an, aber Mama unterbrach mich.
    »Nein, müssen wir nicht. Ich hatte lediglich an Pauls letzte Nacht gedacht. Erinnerst du dich? Erinnerst du dich daran, dass er in jener Nacht Albträume hatte ?«
    Papa nickte und streichelte ihre Hand.
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