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Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille

Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille

Titel: Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
Autoren: Anne Chaplet
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bösen Schmerz. Sie sah an sich herab. Ihre Füße waren nackt. Sie hatte keine Schuhe angezogen.
    Es ist nichts, flüsterte die Stimme in ihr. Du konzentrierst dich nicht, denkst immer an mindestens drei Sachen zugleich. Bist eben nicht mehr die Jüngste.
    Sie balancierte auf einem Bein, während sie den Glassplitter aus ihrem Fußballen zog. Und dann hob sie den Blick.
    Zwei Tannen mit geborstenen Stämmen waren auf den rückwärtigen Zaun gefallen, wahrscheinlich versperrten sie den Gemeindeweg. Sie mußte jemanden anrufen – aber wen? Die freiwillige Feuerwehr? Den Ortsvorsteher?
    Sophie strich sich das feuchte Haar aus der Stirn. Sie hatte heute noch nicht in den Spiegel gesehen, die Haare waren nicht gekämmt und die Zähne ungeputzt. Hoffentlich sah sie niemand so. Und dann wanderte ihr Blick von den umgestürzten Tannen aufwärts, zur Rückseite des Hauses. Die Birke. Auch die war mal ein kleines Bäumchen gewesen. Aber mittlerweile reichte sie dem Haus bis zur Dachtraufe. Und jetzt hatte sie sich über das Haus geneigt, drückte auf das Dach, rieb sich an der Dachrinne.
    »Wir fällen auch Bäume«, hatte der Mann gesagt, bei dem sie das Holz für den Winter bestellt hatte, der alte Otto, der ein paar Straßen weiter wohnte und ihr die sauber geschnittenen Buchenscheite mit dem Bulldog anlieferte. Er hätte sie ihr auch gestapelt, wenn sie ihn gelassen hätte. »Ist doch keine Arbeit für eine junge Frau!« Altherrencharme. Aber er hatte einen wunden Punkt getroffen. Manchmal fehlte ihr – ein Mann.
    Einer wie Conrad, der das Holz hackte für den Kamin. Mit dem man Wein trinken und sich lieben konnte. Manchmal wußte sie nicht mehr genau, warum sie sich eigentlich getrennt hatten. Es war gut gewesen mit ihm, die paar Jahre. Sie sah sein Profil vor sich, die schmale, etwas windschiefe Nase, im Dämmer des Schneideraums, in dem sie tage- und nächtelang nebeneinandergesessen hatten. Es war immer ein magischer Moment gewesen, wenn das Filmmaterial zum ersten Mal angelegt wurde, Spule um Spule. Sie hatten daraus ein Ritual gemacht, einen guten Wein geöffnet, auf sich und das Werk angestoßen, während die ersten Bilder über den Bildschirm liefen, und Conrad hatte sich ein Zigarillo angesteckt.
    Vorbei. Und besser so. Kein Mann, auch er nicht, hätte jemals hier einziehen dürfen. Nicht in dieses Haus. Außerdem konnte man einen guten Wein auch allein trinken.
    Sophie schüttelte benommen den Kopf. Träum nicht. Vor allem nicht von der Vergangenheit.
    Wieder bewegte sich die Birke unter einem Windstoß. Sie trat ein paar Schritte näher. Nicht die Birke war umgeknickt, sondern eine der Tannen, die gegen die Birke gekippt war. Daraufhin hatte sich der Baum geneigt, wie ein Teller hatte sich das flache Wurzelwerk aus der Erde gehoben, während die Krone über dem Dach lag. Wieder hörte sie es schaben und klopfen. Und wie in Trance ging sie hinüber, faßte an den Baumstamm, wollte ihn bewegen. Ein lächerlicher Versuch. Hilflos ließ sie die Arme sinken.
    Der Wind schien die Luft anzuhalten. Sie hörte ein Pfeifen, das sich langsam steigerte. Und dann wurde der Ton tiefer. Sie lauschte dem Klang hinterher, er berührte etwas in ihr, sie spürte Weite und Einsamkeit. Der Ton kam näher. Die Luft vibrierte. Endlich begriff sie. Lauf, dachte sie noch. Aber schon war die Windbö bei ihr und preßte sie gegen den Birkenstamm. Sie versuchte Luft zu holen und sich dem gewaltigen Druck entgegenzustemmen. Ihr T-Shirt blähte sich knatternd auf. Über ihr ächzten Äste, splitterten Zweige. In diesem Moment bewegte sich der Birkenstamm. Die Tanne folgte. Sie hörte es krachen und bersten. Sophie fiel. Und dann senkte sich eine Wolke aus nassen Tannenzweigen über sie und hüllte sie ein.
    Als sie zu sich kam und die Augen aufriß, sah sie nichts. Aber es roch nach Harz und feuchter Erde. Sie schmeckte Blut und tastete mit der Zunge nach ihrer Unterlippe, die sich taub anfühlte und anzuschwellen begann. Über ihr rauschte und wisperte es, etwas näherte sich, ein Tier? Sie versuchte zu rufen, versuchte sich zu bewegen, die Beine, die Arme, den Kopf. Der Baum hatte sie unter sich begraben. Sie würde erfrieren.
    Etwas flüsterte. Etwas wollte zu ihr. Drang durch die Zweige. Nicht, dachte sie noch. Dann dämmerte sie weg.
    So weiß wie Schnee, so rot wie Blut. Was für ein schöner Vogel. Unter dem Machandelbaum.

3
    »Hast du das gehört?« Ulla Abel stellte das Bügeleisen ab, ging zum Fenster und spähte hinaus.
    »Was
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