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Patentöchter

Patentöchter

Titel: Patentöchter
Autoren: Julia Albrecht & Corinna Ponto
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dass Du das, was ich schreibe, nur portionsweise oder »abgewandt« aufnehmen kannst. Ich finde es mutig, dass Du überhaupt bereit dazu bist. 
    Unglaublich, dass Du zu der Person an der Tür, in dem Glauben, es sei der Freund, gerufen hast, was tatsächlich geschehen ist: »It’s over!«
    Corinna, was geschah danach? Wie ging der Tag für Dich weiter?
    Deine Julia

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Zu Hause gab es nicht mehr
Corinna Ponto
    Wie der Tag weiterging?
    London, die Fremde, das Fremde, das wochenlang Abwechslung bedeutet hatte, war schlagartig planetenfern. Ich weiß noch, dass ich irgendwie erleichtert war, dass der Koffer schon gepackt war – wie sonst funktionieren?
    Da es keinen Linienflug mehr nach Frankfurt gab, organisierte Herr St. eine kleine Chartermaschine. Ein Freund der Familie begleitete mich und brachte mich heim. Ich kann mich noch erinnern, wie ich nach der Landung auf dem Frankfurter Flughafen einen Krankenwagen sah, der offenbar für alle Fälle neben der geparkten Maschine bereitstand – für mich ein erster Hinweis auf das, was kommen sollte. Zunächst musste ich der Polizei Auskunft geben – ein erstes Ausfragen über die Besuche von S. in den Monaten zuvor, ihre Kleidung, ihr Auto, über die Fragen, die sie mir gestellt hatte, die Länge ihrer Besuche und, und, und. Später, in verschiedenen Prozessen, musste ich mich diesem Ausfragen erneut stellen, wo ich doch am liebsten selbst endlos Fragen gestellt hätte.
    Durch schmale lange Verwaltungsgänge wurde ich dann hinaus und in ein Auto geleitet, und es ging direkt in unwirklich hohem Tempo durch einen geöffneten Schlagbaum auf die Autobahn. Es war ein privates Ankommen im Dunkel des sehr frühen Morgens auf dem bisher nur öffentlich erlebten Flughafen. Bei der Fahrt in den Taunus setzte sichrasch eine starke Morgensonne durch. Zu hell, zu früh. Die Augen kniff ich während der ganzen Fahrt zu.
    Es war kein Nach-Hause-Kommen, sondern Ankunft an einem Tatort. Zu Hause gab es nicht mehr. Polizeiautos standen quer, irgendwo flimmerte ein unermüdliches Blaulicht, Beamte liefen im Haus umher. Begegnete man neuen Gesichtern auf dem Flur, gab es im geschäftigen Lauf ein Innehalten, ein »herzliches Beileid« mit Händedruck und gegenseitigem Ins-Auge-Fassen. Ich fühlte mich blass im Vergleich zu all den kräftigen Energien im Haus.
    Meine Mutter war wach, sie hatte auf mich gewartet. Sie trug einen alten rosa-orangefarbenen Morgenmantel, ich fühle den Stoff noch an meiner Wange – es waren noch die Tage im Übergang zum offiziellen Schwarz. Wir saßen abseits auf dem Garagenhof auf einem Baumstamm – für eine lange Zeit. Ein Ort, an dem wir vorher nie gewesen waren.
    Im Haus wusste ich nicht, wie ich das Wohnzimmer betreten sollte – durch welche Tür? Lag der Teppich noch da? Meine Mutter sagte, man sähe nichts mehr, das glaubte ich nicht. Es stimmte auch nicht. An den Fensterscheiben im Esszimmer waren Einschusslöcher markiert. Eine »1«, eine »7« klebten am Fenster. Schnell zog ich mich auf mein Zimmer zurück.
    Auf meinem Bett lag ein Kuvert, das mein Vater mir für die lang geplante Familienreise nach Südamerika zurechtgelegt hatte. Ich hatte die lange Hinreise unbedingt alleine machen wollen, ohne die Eltern, und deshalb geplant, genau zwei Tage später als sie loszufahren. Mein den Eltern gewohnter und von ihnen akzeptierter Trotzkopf könnte mir das Leben gerettet haben. Neben dem Ticket lag noch ein kleiner Brief. Er endete mit den Worten: »Gute Reise, Dein Papi«.
    Diese Worte habe ich immer symbolisch gelesen.
    Daneben lag ein neuer Steckkalender, der den 30. Juli zeigte. Ich habe ihn nie benutzt.

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Meine Schwester
war aus der Welt gefallen
Julia Albrecht
    Ich erinnere mich an nichts. Zum Beispiel auch nicht daran, dass meine Eltern bereits am nächsten Tag zu Pontos flogen. Meine Mutter erzählt, dass ich sie quasi gezwungen hätte, zwei verschiedene Flugzeuge zu nehmen, weil ich Angst hatte, dass ihnen etwas passieren könnte. Vielleicht erinnere ich mich an nichts, weil ich mich vor Angst kaum rühren konnte. Ich glaube, dass meine andere, die älteste Schwester an diesem Tag bei mir blieb.
    Aber was denkt man, was fühlt man an einem solchen Tag? Das helle Licht des Sommers auf jeden Fall war weg. Vor meinem inneren Auge sehe ich vielmehr das triste Licht in unserer Wohnung in der Eschenallee. Ich kann mich weder an Gedanken noch Ereignisse erinnern – wenn überhaupt an etwas, dann an das Gefühl von Angst
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