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Patentöchter

Patentöchter

Titel: Patentöchter
Autoren: Julia Albrecht & Corinna Ponto
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falsch. Er war kein älterer Herr, sondern ein jugendlich wirkender, sportlicher 30-Jähriger.
    Nach dem, was ich gehört habe, ging mein Vater nach dem Abwehren der Pistole, die Christian Klar auf ihn richtete, mit einer ganz offenen, beide Arme weit ausstreckenden Geste auf den nächsten Angriff der Terroristen zu – wohl mit einer inneren Stimme: So wehrlos, wie ich bin, müsst ihr mich schon töten. Meine Mutter sagte mir, es war eine ganz deutliche Geste, ruhig und sicher.
    Julia, das ist schwer für mich, für Dich.
    Deine Corinna

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»It’s over« – die Nachricht
Corinna Ponto
    Es war der Abreisetag nach einem vierwöchigen »Studienaufenthalt« in London. Ich befand mich in der lebensleichten Orientierungsphase nach dem Abitur. Meine Freundin, die japanische Pianistin Mitsuko Uchida, hatte mir ihre Wohnung zur Verfügung gestellt, da sie auf langer Konzerttournee war. Sie empfahl mir, mich mit der traditionsverwurzelten englischen Theatersprache zu beschäftigen, was ich, das deutsche Theater im Sinn, unter großem Staunen auch tat. Parallel streifte ich durch die Stadt und begegnete im späten Licht eines Nachmittags im Kensington Park Raoul, meiner heftigen Sommerliaison argentinischen Temperaments. Es waren aufregende Wochen.
    Die sollten nun zu Ende gehen. Ich beendete mit leichtem Sinn die Ferienbegegnung. Nachdem die letzten Sachen in den Koffer gepackt waren, ging ich nochmals in den Park, doch schon schwermütig gestimmt und traurig, denn mein Vater hatte mich am Vorabend angerufen und mir vom tragischen Tod des Sohnes von Freunden erzählt. Auch in London war dieses auffallend intensive Sommerlicht. Ich erinnere mich genau, denn ich lag auf dem Bauch im Park, dachte an den gerade so jung Gestorbenen, ohne zu ahnen, dass es die Todesstunde meines Vaters war.
    Zurück in der Wohnung angekommen, brutzelte ich mir die letzten Eisschrankreste in der Pfanne auf. Dafür hatte ichmir eine ungemütliche, sich wellende Plastikschürze umgebunden.
    Es war schon dunkel. Da klingelte es an der Haustür. Ich sah einen männlichen Schatten durch die Glastüre und rief nur: »It’s over, Raoul, please go home!« Es klingelte weiter, und ich insistierte immer lauter und deutlicher: »It’s over, it’s over!«
    Irgendwann rief eine Stimme von draußen zurück: »Hier ist Herr St. von der Dresdner Bank.«
    Mir war das alles richtig peinlich, ich öffnete hastig die Tür, entschuldigte mich für die Schürze und bat ihn herein.
    Er sah unendlich betroffen und nervös aus, sodass ich sofort wusste: Es ist etwas Furchtbares geschehen. Eigentlich musste er kaum etwas sagen. Ich sprach es selbst aus: Mein Vater – ist er tot? Ein Unfall? Nein!, schrie ich so laut und so oft, dass die Nachbarin vom oberen Stockwerk sorgenvoll bei mir anrief.
    Herr St. sagte nur: »Ihre Mutter ruft Sie gleich an.«
    Ein Unfall, ein Herzinfarkt, raste es mir unaufhörlich durch den Kopf. Meine Mutter rief mich an und erklärte mir: Es war Mord!
    »Und weißt du, wer es war?« Unmöglich für mich, mir jemanden vorzustellen.
    »Susanne«, sagte sie nach einer die Welt anhaltenden Pause. »Ein terroristischer Akt.«
    Das war ein so unwirklicher Film im kleinen Durchgangsflur, an dem Telefon mit dem kurzen Kabel, dass ich mich noch im selben Moment von der Wirklichkeit abkoppelte. Es blieb für mich ein »Unfall«. Es zählte nur der Tod – das war die Katastrophe. Nicht die Umstände – egal, was dahinterstand. Und das sollte auch jahrelang so bleiben, bis ich nach den RAF – Anschlägen Ende der Achtzigerjahre allmählich auf Motivsuche ging. Und begann, auf das System hinter den Motiven zu schauen.

    Lass mich hier aufhören zu erzählen.
    Doch eines noch, der blitzartige Sekundengedanke: Warum hatte ich diese dämliche Schürze an? Das passte überhaupt nicht, und es ließ mich glauben: Das ist alles nicht wahr!
    Eine Freundin von mir fand die Nachricht vom Tod meines Vaters an ihrer Hoteltür vor. Da stand: Herr Ponto ist tod – sie starrte lange auf das Schild und konnte die Nachricht nicht glauben, weil sie nicht darüber hinwegkam, dass man »tot« doch mit t schreibt.
    Ja, so kann es gehen mit der menschlichen Seele: Die Gefühle suchen sich ihren eigenen Weg, bewegen sich auf anderen Bahnen, als man vermuten mag.

    Liebe Corinna,
    vielen Dank für Deinen Text. Vielleicht ist es doch gut, dass wir uns an dieses Projekt wagen. Ich hätte sonst nie erfahren, wie es Euch ergangen ist.
    Ich kann es gut verstehen,
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