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Pariser Bilder

Pariser Bilder

Titel: Pariser Bilder
Autoren: Marcel Jouhandeau
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»Meine Mütze rutscht mir über die Augen«, sagt er. Da macht die Betrunkene kehrt, nähert sich linkisch mit ausgestreckten Armen, und als sie die Kopfedeckung gerichtet hat, entfernt sie sich nicht, sie bleibt dort einen Augenblick lang in Betrachtung versunken stehen, sehr ernst vor diesem Gesicht, und plötzlich, mit einer fast mütterlichen Zärtlichkeit, in die sich unendliche Dankbarkeit mischt, zuckt sie, freundlich und ironisch zugleich, die Achsel und küßt den Mann vor aller Augen auf beide Backen, ehe sie ihm wieder den Rücken kehrt und wieder voranholpert, ohne diese vollkommene Gebärde mit dem geringsten Kommentar zu begleiten.

    Pantin

    Vergangenen Mittwoch, den 7. November, besuchte ich den Friedhof von Pantin. Als wir ihn verließen, Veronique und ich, herrschte bereits völlige Dunkelheit; ein weißumhüllter Leichenwagen fuhr herein, dem niemand folgte. Wir wollten uns anschließen, was aber nicht so einfach war. So rasch rollte er davon. Kaum waren wir indes einige fünfzig Schritte in der Öde der großen Allee gegangen, als eine Frau hinter uns aufauchte; allein, ganz allein, eher mühsam sich schleppend als gehend, ohne daß es ihr gelang, den Wagen einzuholen, der es so eilig hatte. Als wir sie hinter uns schluchzen hörten, ließen wir ihr den Vortritt, und trotz unserer Scheu, uns ihr zu nähern, hätte doch nichts uns hindern können, sie bis zuletzt zu begleiten. Endlich, auf eine diskrete Frage hin, erfahren wir, daß sie, mit ihrem zehnjährigen Töchterchen zusammen ins Spital eingeliefert, die Kleine dort verloren hat, und daß sie ihre Herrschaf nicht rasch genug davon verständigen konnte, die einzigen Menschen, die sie kannte, sonst hatte sie niemand auf der ganzen Welt, darum war sie auch allem, da die Verwandten schon alle tot waren, aber das Demütigendste war doch, daß die Kleider, die sie anhatte, nicht einmal die ihrigen waren; diese befanden sich nämlich in der Aufewahrung und blieben dort bis zu ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus, und heute hatte sie sich heimlich fortgestohlen, mit Hilfe der Schwestern und in einem geliehenen Kleid, »damit ihre Tochter doch nicht ungeleitet zu Grabe getragen würde«. Da haben wir sie bei den Armen genommen, der eine links, der andere rechts, und dreiviertel Stunde etwa sind wir alle drei zwischen den Gräbern fortgegangen, in der völligen Dunkelheit. Wie hätte die arme Frau sonst, in ihren allzugroßen Holzschuhen, die Grube erreichen sollen, die wir in der Ferne wahrnahmen, gleich einem kleinen Abgrund, von einigen Laternen erhellt? Dort angekommen, hieß man uns auf eine Plattform steigen und dann über ein langes schmales schwankendes Brett schreiten, das über eine tiefe Schlucht führte. Ganz übergoldet glich der Sarg vor uns einer Pralinenschachtel in den Händen der Männer, die ihn einander weiterreichten, während sie eine Zahl murmelten: 97, die Zahl des Jüngsten Gerichts, bis der Sarg auf dem Grund eines schwarzen Loches anlangte, über welchem man diese drei Ziffern auf einem Kreuz las.
    Die arme Mutter sprach mit sanfen Worten zu dem jetzt verborgenen, versiegelten kleinen Ding: »Schatz, mein Schätzchen, du warst so hübsch; ach, daß ich dich nie mehr wiedersehen soll!« Wenn sie dann und wann »meine Tochter« sagte, so hörte man den mütterlichen Stolz in ihr heraus, und gleich darauf verfiel sie wieder in eine fassungslose Verzweiflung. Wir haben den Sarg mit ihr eingesegnet und sie dann zurückbegleitet; sie war nur leider sehr unruhig, nicht wahr, wo ihr eine Schwester und eine der Pflegerinnen doch ein paar Kommissionen aufgetragen hatten: »Und wenn Sie von dem Begräbnis Ihrer Tochter zurückkommen, gehen Sie noch bei Potin vorbei und ins Kaufaus am Rathaus und kaufen uns etwas Schokolade und ein Päckchen Haarnadeln.«

    Zugrunde gehn oder lügen

    In der Trambahnlinie Auteuil-Saint-Sulpice sitzt ein Mädchen von siebzehn Jahren, Bedienerin in einem Kloster oder im Begriff, es zu werden, neben einer Nonne, zu der sie hinüberlächelt, damit nur ja alle merken, daß sie sich in so guter Gesellschaf befindet (was für gewöhnlich nicht der Fall ist), gleichzeitig jedoch weigert die Schwester sich, sie zu sehen, sie zu kennen, irgendwen zu kennen. Sie möchte den Anschein erwecken, als führe sie allein, wie eine Dame. Die Kleine kommt offensichtlich aus dem Spital, wohin ihr Lebenswandel sie gebracht hat, und sie versucht nun, sich an das unzugängliche Lächeln der Nächstenliebe zu klammern,
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