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Paravion

Paravion

Titel: Paravion
Autoren: bouazza
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und außerdem stark; unter den schlaffen Fettsäcken verbargen sich enorme Kraftbündel. Ihr Körper spannte sich, und ihre Formen und formlosen Rundungen wurden voller, schienen sich zu verjüngen und machten sie attraktiver denn je. Er zitterte vor Angst und wiedererwachter Lust; jetzt streckte er seine gierigen Hände nach ihr aus, um sie zu besänftigen, sie zu packen und zu Boden zu werfen, doch sie schmetterte seine niederträchtigen Hände wütend ab. Ihm war, als erhielte er einen elektrischen Schlag. Zum ersten Mal fiel ihr auf, daß seine Hände voller Leberflecke waren.
    Und dann folgte eine Flut von Flüchen und Schimpfworten, einige davon in seiner eigenen Sprache; er hatte ihr diese in ihren intimen Momenten beigebracht, was er jetzt bedauerte.
    Bei jedem Schrei zog er den Kopf ein, und als ihr Crescendo den Höhepunkt erreicht hatte, nicht nur das der Lautstärke, sondern auch das ihrer Größe, war sein Diminuendo-Wimmern bereits zu einem unhörbaren Pianissimo verstummt. Sie, Riesin jetzt, überragte ihn turmhoch. Er, die Maus, umkreiselte ihre Füße, um ihrem Zorn zu entgehen. Sie mußte sich bücken, als ihr Kopf die Zimmerdecke erreichte. Wild stampfte sie mit den Füßen, um ihn zu zertreten oder wenigstens seinen Schwanz zu erwischen und ihn festzunageln.
    Als er aus dem Fenster flog und auf dem Bürgersteig landete, genau unter der Straßenlaterne, war er bis auf dreißig Zentimeter zusammengeschrumpft. Er ächzte und zirpte im Countertenor, als wäre er seiner Samendatteln beraubt, dort, wo sie ihn hingetreten hatte. Marijken lehnte sich über die Fensterbrüstung und setzte ungestört ihre Zeterarie fort, das Orchester tremolierte, die Pauken rumorten, bis sie die Klimax
    – ein hohes E – erreichte, dann knallte sie das Fenster mit einem Beckenschlag zu.
    Ein goldner Strahl plätscherte plötzlich auf den Kopf des Teppichhändlers, und dieser Strahl kam nicht von der Straßenlaterne, sondern vom Hund, der endlich seinen Lieblingslaternenpfahl gefunden hatte. Dicke, sirupartige, birnenförmige Tropfen zerschellten auf der Schädelplatte des Teppichhändlers. Die letzten Töne eines Glockenspiels.
    Stille.
    Vorhang.

    Mit ähnlichem Blitzen und Donnern, wie Marijken es hervorbrachte, kam der depressive Herbst – Herbest, wie die Moreaner sagten – mitsamt dem Regen. Die Tage im Teehaus waren so trist und monoton wie Tage in den Fluren einer Irrenanstalt.
    Der Winter kam nur zögernd, Flocke für Flocke, sie liebt mich, sie liebt mich nicht. In der Bar Zach zitterten die Männer vor Kälte und klapperten mit den Zähnen. Das Teehaus war kaum zu heizen. Tee wurde literweise getrunken, doch nichts konnte die Brüder erwärmen, und die Schneeböen tobten draußen wie die weißgekleideten Patienten einer Irrenanstalt.
    Das Bedürfnis nach der Wärme einer frischen, jungen und keuschen moreanischen Braut war größer denn je. Der Schnee fiel in geraden Linien vom Himmel, aber auch torkelnd und kreiselnd. In ihren Betten liegend starrten die Männer die Zimmerdecke an, die Landkarte ihrer Einsamkeit, und ab und zu stießen sie in die Stille ihrer Finsternis einen Schrei aus wie gequälte Geisteskranke in der Isolierzelle einer Irrenanstalt.
    Marijken ertränkte ihre Tage im Alkohol und wärmte sich manchmal an einem menschlichen Ofen, einem Schicksalsgenossen aus der Kneipe meistens, an jemandem, den sie unter dem menschlichen Sperrmüll dort fand. Sie weinte, und ihr Herz hämmerte voller Wut und Verzweiflung gegen die Rippen wie ein Verrückter gegen eine der vielen Türen einer Irrenanstalt.
    Mamette starrte zum Fenster hinaus und beobachtete den Rhythmus der trägen Schneeflocken. In geraden Linien fielen sie vom Himmel und änderten dann ihre Richtung. Sie summte und murmelte den Nonsensgesang ihrer früheren Rauschzustände: Subolgsnebel nie, ezravotsurb eniem mu sierk nenie …
    Sie mochte den Schnee, der die kahlen Bäume in weiße Pelze hüllte. Die Grachten waren zugefroren, und die ersten Schlittschuhläufer wagten ein paar vorsichtige Schritte. Bei Sonnenschein war sie ganz verzaubert von den blauen Schatten, die die kahlen Äste aufs Eis warfen. Sie hörte das laute Lachen der Kinder. Sie begriff, was für Striemen die Eisläufer auf dem gefrorenen Wasser hinterließen.
    Sie streichelte ihren schwangeren Bauch und fragte sich, ob der Fötus nur die Schläge ihres Herzens hören konnte oder auch den pantoffligen Fall des Schnees: Hör zu.

    IV

    1
    »Schau!«
    Der Frühling war ein
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