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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301
Autoren: Wilfried Eggers
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sagte Müller leise. »Da geht es mir gut. Aber die Kohle für dein Hotel, Alter, die kannst du von mir kriegen.«
    »Du leihst mir das Geld für meinen Traum?«, schoss Clever herum.
    »Wo denkst du hin, Mann! Ich verleih doch kein Geld! Bin ich ’ne Bank? Hältst du mich für verrückt?«
    Clever saß da mit offenem Mund.
    »Und ich werde Reisen nach Tunceli organisieren!«, rief Zekiye. »Bergtouren, Wandertouren, Skitouren, Raftingtouren! Denn ich habe in fünf Jahren meine eigene Reiseagentur! Vielleicht brauche ich dafür auch etwas länger als fünf Jahre … und ich werde nach Sivas fahren, bald!« Ihre Augen leuchteten.
    »In fünf Jahren«, sagte Cengi zweifelnd »werde ich wissen, ob es richtig ist, in die Berge zu gehen oder nicht. Auf jeden Fall gehe ich zurück in die Heimat, so bald es geht. Wenn es je geht. Wenn unsere Leute vielleicht den Semah wieder tanzen dürfen …«
    »Du kannst dann ja bei mir arbeiten«, bot Clever an.
    »Und bis dahin bei mir«, sagte Heinsohn.
    Cengi stand auf und ging in den Flur.
    »Und ich«, ergriff Havelack das Wort, »hänge meinen Job an den Nagel und mache endlich meine eigene psychiatrische Praxis auf.« Er goss sich einen Schluck Rotwein in die Kehle und wischte sich den weißen Schnurrbart. »Ich will endlich, verdammt noch mal, Zeit für meine Patienten haben!«

    »Und du?«, fragte Christa ihren Mann.
    »Ich? Oh – in fünf Jahren habe ich die Asylrechtsprechung Deutschlands betreffend die Türkei umgekrempelt, insbesondere bezüglich der Aleviten aus dem Dersim, die verstreut, heimat- und rechtlos in aller Welt leben müssen. Wenn wir den russischen Juden Heimat gewähren und Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien aufnehmen, dann werden wir auch die Dersimi aufnehmen! Heyders Verfahren wird das erste sein, das wir gewinnen, und dann werden andere folgen!« Seine Augen blitzten begeistert.

    »Und …?«, fragte Christa.
    »Die Wohnung geben wir auf, ganz klar!«
    »Und …?«
    »In die Türkei komm ich mit, weil ich Paul in seinem Hotel sehen will, weil ich sehen will, was er da alles geschafft hat, weil Paul und ich, wir haben …«
    Er verstummte und sein Blick traf den Clevers. Schlüter hob sein Glas und stieß es quer über den Tisch an Clevers Tee. »Danke«, sagte Schlüter. »Wir haben das alles nicht absichtlich gemacht.«
    »Nee«, antwortete Clever und versuchte zu grinsen.
    »Es ist so gekommen«, sagte Schlüter. »Wir haben das Beste gewollt und trotzdem ist es so gekommen.«
    Clever nickte. »Das wird schon wieder«, sagte er. »Muss ja.«

    Nun hatten sich alle geäußert bis auf Heinsohn. Alle sahen ihn erwartungsvoll an und sie spürten die Kraft ihrer Wünsche.
    »Das klingt ja ein bisschen bescheuert«, sagte Heinsohn. »Aber – in fünf Jahren? So weit kann ich nicht gucken. Ich hab ja nun gerade das mit Lars erzählt. Zum ersten Mal. Und wenn Heyder wieder zurückgeht … Ich hab mir ’n Termin beim Arzt geholt, mein Fuß, das geht ja so nicht weiter. Und dann hab ich mich bei der Volkshochschule für einen Zeichenkurs angemeldet, der fängt in drei Wochen an, und …«
    Plötzlich klopfte es und die Tür zum Flur ging auf. Eine große Frau mit grauen Haaren, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, stand auf der Schwelle. Sie trug eine Jeans, hatte grüne Augen und versuchte ein kleines Lächeln.
    Der neunte Stuhl, dachte Schlüter, als er Heyder Cengi hinter ihr sah.
    »Willi …«
    »Mensch, Hilda«, sagte Heinsohn nur, wie damals in Paris, als die Lebenstüren offen standen.

Nachbemerkung
    Fast alle Personen und die Handlung dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Personen aus dem wirklichen Leben sind zufällig und nicht beabsichtigt.
    Tatsache ist:
    In den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts erforschte der Sprachforscher Karl Hadank von der Universität Leipzig die Sprache der Zaza. Er erfasste das grammatische System und schuf die Schriftsprache dieses anatolischen Volkes.

    Die Hinrichtung des Anführers der Dersimer Aleviten in Elazıg im November 1937 wurde vom spät eren Außenminister der Türkei, Sabri Çaglayangil, in seinen Memoiren überliefert. Çaglayangil behauptet, dies sei am 8. November geschehen, andere Quellen (Musa Anter, Meine Memoiren ) berichten vom 16. November.
    Zwischen März und Mai 1938 wurden auf Befehl des türkischen Präsidenten Kemal Atatürk in der ostanatolischen Provinz Tunceli zwischen siebzig- und hunderttausend Menschen planmäßig ermordet und ungefähr
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