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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301
Autoren: Wilfried Eggers
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auch einladen müssen, dachte Schlüter, denn ohne sie …
    »Dabei ist die doch verrückt, oder?«, fragte Havelack.
    »Was ist verrückt?«, fragte Schlüter zurück. »Wir waren verrückt, dass wir in die Türkei gefahren sind. Jedenfalls, bevor wir losfuhren. Aber ob es tatsächlich verrückt ist, was man tut, weiß man immer erst hinterher, wenn man weiß, ob es geklappt hat oder schiefgegangen ist. Und ohne Clever …«

    »Ist der nicht auch verrückt?«, fragte Havelack. »Wenn ich so daran denke, wie der bei uns im Keller saß …«
    »Und weil du verrückt bist, hast du ihn nicht nach Lüneburg eingewiesen, sondern ihn rausgelassen zu mir, der reine Wahnsinn. Das hätte dich einen Skandal und den Job kosten können, mein Lieber!«
    »Und ich«, jammerte Christa, »was ist mit mir? Ich will auch verrückt sein …«
    »Du bist verrückt, weil du mit diesem Psychopathen verheiratet bist«, grinste Havelack. »Mit diesem manisch lesenden Eigenbrötler, diesem menschenscheuen Paragrafenreiter, dieser grauen Maus, die sich nichts traut, bis auf –«
    »Ich hab mich gar nichts getraut«, widersprach Schlüter. »Ich konnte mich bloß nicht wehren gegen diese Reise. Der Einzige, der Mut hatte, war Clever.«
    »Außerdem – er liest nicht mehr viel in der letzten Zeit«, sagte Christa ernst. »Er sitzt am Fenster und guckt Löcher in die Luft.« Und will mich immer neben sich haben, aber das sagte sie nicht.
    »Ja bist du denn tatsächlich verrückt geworden?«, wollte Havelack wissen. »Oder wirst du allmählich normal? Die meisten Leute brauchen viel länger, bis sie das Geheimnis des langen Lebens entdeckt haben und es endlich schaffen, nichts zu tun, als Löcher in die Luft zu gucken, sie schaffen das erst, wenn ihr Verstand kaputt ist, wenn sie dement sind, wenn sie nichts mehr davon haben …«
    »Ich scheiß auf das lange Leben«, unterbrach Schlüter düster und ein paar hundert Meter lang sagte keiner was.
    »Und wie heißt der, wo wir hinfahren?«, fragte Havelack.
    Sie waren an der Kreuzung angekommen, an der rechts das Gasthaus lag, in dem neuerdings die Ü30-Partys stattfanden.

    »Heinsohn«, antwortete Schlüter. »Willi, glaube ich, ist sein Vorname. Bauer, Engelsmoor 27. Ist nicht mehr weit.« Er bog links ab.
    »Bauer sagst du?«
    »Ja, warum, kennst du ihn?«
    »Och nee, ihn nicht«, murmelte Havelack in seinen Einsteinbart.
    Das erste Mal hatten sie, Christa und Peter Schlüter, den Bauern Heinsohn im Mai besucht, kurz nachdem Heyder Cengi aus der U-Haft entlassen worden war, um seine wiedergewonnene Freiheit zu feiern. Eigentlich war es nicht schwierig gewesen, Cengi freizubekommen. Nicht mehr, nachdem Staschinsky die junge Frau ermittelt hatte, die Gustav Söhl im letzten Jahr im Apfelhof vergewaltigt hatte. Sie hatte bestätigt, dass ein Unbekannter mit dunklem Gesicht Söhl fortgerissen und mit gewaltiger Kraft k. o. geschlagen, sie mit in seine Wohnung genommen habe, wo sie sich so weit erholte, dass sie allein zurück nach Hannover reisen konnte. Gustav Söhl war, mit dieser Aussage in Staschinskys Verhör konfrontiert, zusammengebrochen und hatte nicht nur dies zugegeben, sondern auch den Überfall auf das Mädchen, eine vierzehnjährige Schülerin aus der Nachbarschaft, die auf dem Weg nach Hause gewesen war. Das Mädchen hatte sogar ihren Eltern von dem Vorfall erzählt, aber die hatten, wie bei derartigen Fällen schon fast üblich, nicht das Rückgrat gehabt, Söhl anzuzeigen und sich womöglich mit Holthusen anzulegen, bei dem Söhl arbeitete, oder mit Söhls unschuldiger Mutter, bei der man neulich noch zum Geburtstag eingeladen war, ach, und wer weiß, nachher können wir das nicht beweisen …
    Schlüter hatte eine ergänzende Vernehmung Cengis verlangt, in der Cengi der Polizei mitteilte, was ihm erst bei dem Besuch des grimmigen Bauern Heinsohn und dem Anblick seiner Stiefel unter dem Besuchertisch ins Bewusstsein getreten war: Das Letzte, was Cengi gesehen hatte, als er neben Adamans Leiche niedergeschlagen worden war, war die Spitze eines geflickten Gummistiefels gewesen. Solche Stiefel gab es viele in Engelsmoor und auch bei Söhls hatte man solche gefunden, denn wie die meisten, die aus kümmerlichen Verhältnissen stammten, waren sie geizig und schmissen nichts weg, was noch zu gebrauchen war.
    Diese Fakten ließen die akribische Sauberkeit des Tatortes, die das fantasielose Hemmstedter Polizeikommissariat bis dahin mit der beknackten Spießigkeit der Landbewohner und
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