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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301
Autoren: Wilfried Eggers
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Ausländeramt nicht mehr anweisen. Und er, Schlüter, keine Erpressung mehr begehen und Amt und Ehre aufs Spiel setzen. Also bitte er den neuen OKD herzlich und um der Menschlichkeit willen um eine Aufenthaltsgenehmigung für Herrn Heyder Cengi aus Ovacık in Tunceli, vormals Dersim. Nur vorübergehend selbstverständlich, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Asylverfahrens.
    Schlüter erzählte dem neuen Verwaltungschef an dessen drittem Arbeitstag die Quintessenz seiner Reise in die Türkei. Inklusive Schießerei. Inklusive Clevers Schlag auf den Schädel des Soldaten in Pertek. Mit dem Völkermordstein.
    Schlüter hatte sein Hemd aufgerissen und Everding die wehrlose Brust gezeigt.
    »Du bist tatsächlich verrückt«, sagte Havelack.
    »Er hat mir gesagt, ›Herr Schlüter, wo leben wir denn, selbstverständlich bekommt der Mann seine Freiheit‹, und er hat an Ort und Stelle den Leiter des Ausländeramtes rantelefoniert und ihn in meiner Gegenwart angewiesen, Cengi eine Duldung zu erteilen. Drei Tage später hat er sie mir zugestellt.«
    »Und warum hat er das gemacht?«, fragte Havelack. »So ohne Gegenleistung?«
    »Weil er eben nicht verrückt ist«, antwortete Schlüter. »Weil er damit das Normalste von der Welt getan hat, denn die Welt ist verrückt, und wer das Verrückte geraderückt, der ist normal.«
    »Hast du nicht Angst, dass er die Sache mit der Schießerei weitererzählt?«
    »Nicht die geringste. Das Auto habe ich übrigens bezahlt, die Leute von der Mietwagenfirma wollten nur das Geld, der Rest war denen egal.«
    »Ich fürchte um den neuen OKD«, machte Havelack sich Sorgen. »Wenn der jetzt schon so menschlich anfängt, dann wird er es nicht weit bringen im Landkreis.«
    »Was ist weit?«, fragte Schlüter. »Nach welcher Messlatte?«

    »Schon klar, Bruder«, grinste Havelack.
    Sie schaukelten weiter.
    »Wo wir gerade dabei sind – was ist eigentlich aus der Schlossgeschichte geworden?«, fragte Havelack.
    Schlüter lachte und erstattete Bericht. Eines der besten Mandate, das er je gehabt hatte: wenig Arbeit, viel Geld. Vor zwei Monaten hatte er für Erich Müller, den illegitimen Sprössling der Gräfin, einen Abschlag auf seinen Pflichtteilsanspruch in Höhe von einer halben Million besorgt. Der Landkreis zahlte zähneknirschend, soweit ein Landkreis mit den Zähnen knirschen konnte. Die Gräfin Sigunde von Thalheim hatte alle hereingelegt, einschließlich Spindelhirn, der geglaubt hatte, besonders schlau zu sein. Sie hatte mit einem Schlag zwei Fliegen erschlagen, die sehr weit auseinander gesessen hatten: Das Schloss wurde zum Kulturhaus hergerichtet und der verstoßene Sohn bekam schnelles Geld. Als der Umfang des Pflichtteilsanspruchs bekannt wurde, schäumten die Grünen im Kreistag vor Wut, aber wem hatte es schon je genutzt, recht gehabt zu haben? Man musste sich mit den Realitäten abfinden. Im Herbst sollten die ersten Veranstaltungen stattfinden. Dem fortgereisten Dietrich Dieken war ein Verfahren wegen der Möbel nachgeschickt worden. Gegen Zahlung läppischer 6.000 Mark wurde es aber eingestellt. Diekens Job als Stadtdirektor von Köln stand zu keiner Zeit infrage. Sein Kragen blieb weiß.
    Der neue OKD Everding war unangefochten, er hatte diese Suppe nicht gekocht. Aber auch Erich Müller blieb, wie es schien, unangefochten. Mit dem Geld machte er nichts, er ließ es liegen auf einem einfachen Girokonto. Er brauche kein Geld, sagte er. Seine Mutter hatte ihn kurz nach der Geburt zu Pflegeeltern im Hessischen abgeschoben, die sie reichlich mit Trink-Geld versorgte, und Müller war auf die schiefe Bahn geraten. Im Knast hatte er Clever kennengelernt, sie waren vor zwölf Jahren gemeinsam ausgebrochen; während man Clever vor der Haustür seiner damaligen Dame verhaftet hatte, war es Müller gelungen, sich nach Südfrankreich durchzuschlagen, wo er – wie Cengi im Norden – als Illegaler gearbeitet hatte, im Weinbau. Die Vollstreckung seiner alten Strafen war inzwischen verjährt.
    Wieso er kein Geld brauche, hatte Schlüter ihn gefragt. Wieso er mit dem Geld nichts machen wolle?
    »Ach, wissen Sie«, hatte Müller geantwortet. »Das ist ganz einfach. Sie können nicht leben mit der ständigen Angst, verhaftet zu werden. Ich hatte fast zwanzig Jahre gesessen, als ich abgehauen bin, wissen Sie noch? Und Sie können auch nicht ewig hoffen, Ihre Situation würde sich verbessern. Denn dafür gibt es nicht die geringsten Anzeichen. Unter solchen Umständen drehen Sie entweder durch
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