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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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gegeben.

    Diesmal konnte ich nicht mit Lotta sprechen. Ich konnte einfach nicht.
    Ich stand in der Küche, im Schatten, und wusch die zu großen Töpfertassen ab, die nicht dreckig waren, als Claas draußen auf der Veranda mit ihr sprach.
    »Sind Sie sicher?«, fragte Lotta. »Er ist ganz tot? Er kommt nicht wieder? Absolut?«
    »Absolut«, sagte Claas. Er sagte es ziemlich leise.
    »Dann«, sagte Lotta. »Dann weinen sie ja jetzt alle so richtig. Die von dem Zettel hören. Selber schuld, wenn sie weinen müssen. Jedenfalls machen sie dann das Paradies. Das wollte er doch.«
    Ich hielt die Tasse fest, die ich in der Hand hatte, um keinen Lärm zu machen.
    »Nein«, hörte ich Claas sagen, sehr bestimmt.
    »Nein?«
    »Lotta … du bist ein schlaues Kind.«
    »Nee«, sagte Lotta. »Glaub ich nicht. David ist schlau, ich nicht.«
    »Doch«, sagte Claas. »Das bist du. Und es ist wichtig, dass du verstehst, dass das nicht geht. Man kann mit einem Zettel nicht die Welt verändern. Auch nicht, wenn man die Leute zum Weinen bringt. Alles, was ihr gemacht habt … die ganze Paradieswerkstatt … das war wunderbar. Aber es reichte völlig aus. Das Ende … die Idee, die ganze Welt retten zu wollen … nur das Ende war verkehrt.«
    Lotta sagte nichts. Ich konnte mir vorstellen, wie sie Claas ansah, mit ihrem absichtlich leeren Blick, und Kaugummi kaute.
    »Sie glauben, David hatte nicht recht?«, fragte sie schließlich.
    »Nein.«
    »Arschloch«, sagte Lotta sehr laut, und dann hörte ich, wie sie weglief.
    Ich umarmte Claas, als er in die Küche kam. Aber er knurrte nur. »Ich hätte es ihr anders sagen sollen«, murmelte er. »Irgendwie. Aber ich weiß nicht, wie. Und dieser verdammte Zettel … Sie hat recht mit ihrem Arschloch. Warum glauben wir nie an etwas? Daran, dass sich alles ändern kann?«
    »Weil wir erwachsen sind«, sagte ich. »Aber, Claas … könnte man nicht daran glauben, dass sich etwas ändert? Nicht alles. Etwas.«
    Er nickte. »Wir sollten den Zettel finden.«
    »Ich glaube«, sagte ich, »ich weiß, was damit passiert ist.«

    Ich erwischte Thorsten auf dem Handy.
    »Leg nicht auf«, sagte ich.
    Er legte nicht auf. Aber er sagte auch nichts.
    »Was hast du damit gemacht?«, fragte ich. »Mit dem Stück Papier in Davids Hosentasche? Du hast es doch gefunden. Er war nicht mehr in der Tasche der Hose, als du sie mir gegeben hast.«
    »Ich habe gar nichts gefunden« sagte Thorsten. Es war seltsam, seine Stimme zu hören. Ich mochte seine Stimme noch immer.
    »Ich weiß, was auf dem Zettel steht«, sagte ich. »Es hat keinen Sinn mehr, nicht darüber zu sprechen.«
    »Du … weißt?«
    »Ja. Er hat es in sein Tagebuch geschrieben. Den Werkstattbericht.«
    Eine Weile schwieg Thorsten. Schließlich sagte er: »Du hast recht. Ich habe ihn aus der Tasche genommen, weil ich nicht wollte, dass du … dass du es liest. Dass du von diesem … unsinnigen … Opfer erfährst. Man muss nicht alles ertragen.«
    »Man muss nicht … alles ertragen?« Ich lachte, als ich das wiederholte, ein sehr bitteres Lachen, das mich schüttelte wie ein Anfall von Fieber. »Was muss man denn nicht ertragen? Man muss ertragen, dass Kinder sterben und dass man schuld ist, schuld an Unfällen … auf welchem Weg auch immer … Das ist es doch, oder? Es ist die Schuld. Die du nicht ertragen kannst. Und ich, ich soll darum herumkommen? Um die Schuld? Hast du gedacht, so einfach ist das? Man kann es verschweigen, und das reicht?«
    »Ich …«
    »Glaubst du, nur du hast das Recht, dich schuldig zu fühlen?« Ich merkte, dass ich ihn anschrie, und wurde wieder leiser. »Thorsten. Ich will diesen Zettel haben.«
    »Nein«, sagte Thorsten.
    »Wie bitte?«
    »Es gibt ihn nicht mehr. Ich habe ihn zerstört.«
    »Warum? Es … es war ein Trick, es … er wollte, dass dieser Zettel um die Welt geht. Die Botschaft darauf. Er hat geglaubt, dass die Leute sich ändern, weil sie davon erfahren. Er hat geglaubt, dass das Paradies erschaffen werden kann. Von den Menschen. Allen zusammen. Gott ist in allen Menschen. Die Summe des Guten in allen Menschen.«
    »Das setzt voraus, dass es etwas Gutes gibt«, sagte Thorsten und legte auf.
    Ich versuchte den ganzen Abend weiter, ihn anzurufen, aber er ging nicht mehr an sein Handy.
    Ich habe danach nie wieder mit Thorsten gesprochen. Ich weiß nicht, ob er jemals auf die Kinder-Intensivstation zurückkehren wird oder an die Klinik. Ich weiß nicht, wo er jetzt ist und was er dort tut. Ich
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