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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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Leinwände, ich hatte die Rahmen selbst aus alten Brettern zusammengenagelt und sie später mit genauso altem Stoff bespannt.
    Ich verwahrte meine Bilder unter dem Bett, die fertigen und die angefangenen, und es war über die Jahre ziemlich voll geworden dort. Es beruhigte mich beim Einschlafen, unter dem Bett meine Sammlung an abstrakten Figuren zu wissen, Figuren, die nicht laut und nicht schnell waren und mich niemals auslachten.
    An dem Abend, an dem ich vom Zeltlager zurückkam, sah ich zuerst unter mein Bett. Der Platz dort war leer. Ich stellte mein ganzes Zimmer auf den Kopf, die Bilder mit den grauen Abstraktionen waren nirgendwo zu finden. Auf meinem Schreibtisch lag ein Geschenk meiner Eltern – ein neuer Malkasten, in dem es weder Schwarz noch Weiß gab und also auch kein Grau, nur fröhliche bunte Farben.
    Ich fragte meine Eltern nicht nach den Bildern.
    Ich wusste, was sie von meinen grauen Kästchen hielten. Die Geschichte mit dem Psychologen, zu dem sie mich bringen wollten, kennst du ja –
    Als ich am Morgen zur Schule ging, stand unsere Mülltonne an der Straße, weil an diesem Tag die Müllabfuhr kam. Der Deckel der Tonne ging schlecht zu. Ich sah ein Stück einer Leinwand herausragen.
    ›Beeil dich, du kommst zu spät zur Schule‹, sagte meine Mutter. Also beeilte ich mich; ich ging zur Schule wie immer, und als ich wiederkam, war der Müll abgeholt.
    An diesem Tag bin ich von zu Hause weggelaufen. Ich habe nichts mitgenommen bis auf zwei Pinsel. Ich wollte nie mehr zurückkommen. Ich hasste meine Eltern. Sie hatten gedacht, sie könnten mich zu einem normalen Kind machen, indem sie das Unnormale an mir in eine Mülltonne steckten.
    Ich kam nicht weit. Sie fingen mich am gleichen Abend wieder ein, und ich bekam eine Woche Hausarrest, weil ich alleine so weit vom Haus weggegangen war und meine Eltern sich gesorgt hatten.
    Ich machte nie wieder einen Versuch, wegzulaufen. Ich wusste, dass es keinen Sinn hatte.
    Aber an diesem Abend begann ich, die Mauer um mich herum zu bauen, damit niemand mich mehr verletzen konnte, egal, ob er ein Bild von mir wegwarf oder mich auslachte.
    Ich habe die Mauer aus allen geometrischen Figuren gebaut, die in der Mülltonne gelandet waren; aus der Erinnerung an sie: kleine graue Kästchen, Dreiecke, Kreise.
    Sie waren wie Feldsteine, weißt du? Ich habe die Erinnerung an sie um mich aufgeschichtet, bis ich mich sicher fühlte. Eine Weile war die Mauer weg, oder nicht wichtig. Das war, als wir uns kennenlernten. Aber dann ist sie wieder gewachsen …«
    Ich spürte, wie Claas seine Arme ein wenig fester um mich schloss.
    »Ich habe mir oft genug den Kopf daran blutig gestoßen«, sagte er, und ich hörte ihn dabei lächeln.
    »Du bist weggelaufen. In die Klinik. Das Abstruse ist, je häufiger du weg warst, desto höher wurde die Mauer, sie ist immer weiter gewachsen …«
    »Weglaufen ist immer einfach«, flüsterte er. »Ich hätte nicht weglaufen dürfen. Wenn ich geblieben wäre … wenn ich ein wenig härter daran gearbeitet hätte, die Mauer einzureißen …«
    »Hätte«, flüsterte ich. »Wäre. Die Vergangenheit ist ein einziger Konjunktiv.«
    »Aber die Gegenwart kann, grammatikalisch gesehen, ein Indikativ sein«, meinte Claas. »Ich bleibe. Und arbeite daran. An dieser Mauer.«
    Ich nickte, aber dann fiel mein Blick auf das Kopfende des Bettes, wo Davids alter Teddybär unter dem Kissen hervorlugte, und ganz plötzlich brach die Verzweiflung wieder über mir zusammen wie eine Welle. Ich sah David vor mir, der in seinem Bett saß, vielleicht vier Jahre alt, den Teddybären in den Armen. »Warum ist Papa nicht zu Hause?«, fragte er. »Der Teddy will, dass Papa ihm vorliest.«
    »Ich kann doch vorlesen«, hörte ich mich sagen.
    »Aber der Teddy findet, Papa soll auch mal vorlesen«, sagte David. »Papa kann die tiefen Stimmen in den Büchern besser. Also, sagt der Teddy, mir persönlich ist es ja egal, du machst das auch ganz gut …Warum ist Papa immer noch in der Klinik? Liest er lieber den kranken Leuten vor, damit die einschlafen?«
    Ich löste mich aus Claas’ Umarmung und zog den alten Teddybären unter dem Kissen hervor. Und plötzlich fühlte ich die Verzweiflung wieder in mir hochsteigen. Ich würde David nie wieder etwas vorlesen. Claas würde David nie wieder etwas vorlesen. Wir hatten unsere Chancen verspielt.
    »Ich fürchte, es geht nicht, Claas«, sagte ich. »Ich fürchte, es ist zu spät, irgendwelche Mauern einzureißen.«
    Die
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