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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany
Autoren: John Irving
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Rawls erwischte Dick, als
er gerade von der behelfsmäßigen Herrentoilette wegrannte.
    »Was hast du gemacht, du Arschloch?« brüllte Major Rawls ihn an.
    Dick hatte das Bajonett gezogen. Major Rawls packte Dicks Machete –,
und dann brach er ihm mit einem Schlag das Genick, mit der stumpfen Seite der
Klinge. Ich hatte gespürt, daß in den ungewöhnlichen, meergrünen Augen des
Major etwas Bittereres lag als bloße Wut; vielleicht waren es nur seine
Kontaktlinsen, aber Rawls hatte wohl nicht umsonst im Koreakrieg einen Feldeinsatz
führen dürfen. Er mag nicht darauf vorbereitet gewesen sein, einen glücklosen
Fünfzehnjährigen umzubringen; aber noch weniger war Major Rawls darauf
vorbereitet, sich von einem solchen Kind umbringen zu lassen, von einem Kind,
dem – wie Rawls zu Owen gesagt hatte – (zumindest in dieser Welt) »nicht mehr
zu helfen« war.
    Als Owen » FERTIG ?« sagte, gab ich uns noch etwa
zwei Sekunden zu leben. Doch er erhob sich weit über meine Arme – als ich ihn
hochhob, stieg er sogar noch höher als gewöhnlich; er wollte kein Risiko
eingehen. Er stieg steil empor, blickte dabei kein einziges Mal auf mich herab,
und anstatt die Granate einfach auf dem Fensterbrett abzulegen, hielt er sich
mit beiden Händen an der Kante fest, schob die Granate bis ans Fenster und klemmte
sie dort mit den Händen und Unterarmen ein. Er wollte sichergehen, daß sie
nicht zurück an die Kante rollen und hinab auf den Fußboden [848]  fallen konnte. Es gelang ihm gerade noch, seinen
Kopf – den ganzen Kopf, Gott sei Dank – unter die Fensterbrettkante zu drücken.
Nicht einmal eine Sekunde lang hing er so da.
    Dann explodierte die Granate; ein furchtbares Krachen ertönte, wie
wenn ein Blitz direkt neben einem einschlägt. Granatsplitter flogen mit hoher
Geschwindigkeit durch den Raum – die Splitter verteilen sich normalerweise
gleichmäßig nach allen Seiten (wie mir Major Rawls später erklärte), doch das
Betonfensterbrett hatte verhindert, daß sie auch auf mich oder die Kinder
herabprasselten. Was uns traf, waren all die Bruchstücke, die von der Decke abprallten – ein spitzer, stechender Hagel, der Luftgewehrkugeln gleich durch den Raum
sirrte, und all die Beton- und Kachelbrocken und der Putz fielen auf uns herab.
Die Fensterscheibe hatte es hinausgedrückt, und augenblicklich hing beißender
Brandgeruch im Raum. Major Rawls, der eben Dick getötet hatte, riß die Tür auf
und klemmte den Stiel eines Schrubbers in den Türschlitz – damit sie nicht
wieder zufiel. Wir brauchten Frischluft. Die Kinder hielten sich die Ohren zu
und weinten; einige bluteten aus den Ohren –, und da bemerkte ich, daß auch ich
aus den Ohren blutete und daß ich keinen Ton hörte. Ich sah den Kindern an den
Gesichtern an, daß sie weinten, und mir war, als ich Major Rawls ansah, sofort
klar, daß er mir Anweisungen geben wollte, irgend etwas zu tun.
    Was will er von mir? fragte ich mich und lauschte dem Schmerz in
meinen Ohren. Dann eilten die Nonnen zwischen den Kindern hin und her – alle
Kinder bewegten sich wieder, Gott sei Dank; sie bewegten sich nicht nur, sie
faßten einander an, sie zogen die Nonnen an ihren schwarzen Gewändern, und sie
deuteten hinauf zur aufgerissenen Decke des wie ein Sarg geformten Raums, und
auf das qualmende schwarze Loch über dem Fensterbrett.
    Major Rawls packte mich an den Schultern und schüttelte mich; ich
versuchte ihm von den Lippen abzulesen, was er sagte, denn hören konnte ich ihn
noch immer nicht.
    [849]  Die Kinder sahen sich alle im
Raum um; sie zeigten nach oben und unten, deuteten überallhin. Ich begann mich
ebenfalls umzusehen. Auch die Nonnen schauten jetzt umher. Dann wurden meine
Ohren wieder frei; ein knackendes oder reißendes Geräusch, als würde – mit
Verspätung – die Explosion in meinen Ohren nachhallen, und dann hörte ich das
Geplapper der Kinder und was Major Rawls mir zuschrie, während er mich schüttelte.
    »Wo ist er? Wo ist Owen?« schrie Major Rawls.
    Ich hob den Blick zu dem schwarzen Loch, wo ich ihn zuletzt hatte
hängen sehen. Eines der Kinder starrte in das riesige Waschbecken; auch eine
der Nonnen sah in die Waschkaue – sie bekreuzigte sich, und Major Rawls und ich
eilten schnell zu ihr, um ihr zu helfen.
    Doch die Nonne brauchte unsere Hilfe nicht; Owen war so leicht, daß
sie ihn alleine tragen konnte. Sie hob ihn hoch, wie sie eines der Kinder hätte
hochheben können; dann wußte sie nicht, wohin mit ihm. Eine andere Nonne
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