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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Autoren: Tad Williams
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Nein. Nein, ich nicht.«
    Florimel lächelte ein wenig, aber sagte nichts mehr. Die anderen nickten und murmelten abermals, traurig, aber nicht hoffnungslos. Alles wirkte getrübt an diesem Ort, in dieser grauen Stunde; selbst der von dem unnatürlichen Feuer aufsteigende Rauch war eine flimmernde Mischung aus Form und Unform.
    »Wir können durchaus etwas tun«, fuhr Renie fort. »Hört mir zu! Wir können hier und jetzt damit anfangen. Wir können vorwärts gehen. Aber erst müssen wir aufrichtig miteinander reden.« Sie sah alle noch einmal an, suchte in sich nach dem treffenden Wort, dem Ton, mit dem sie sie erreichen konnte. Sie konnte jetzt eine Richtung spüren – vielleicht hatte !Xabbu das gemeint, als er davon sprach, mit den »Augen des Herzens« zu sehen –, aber der Endpunkt war so blaß und theoretisch wie ein ferner Stern, und ohne Unterstützung würde sie ihn wieder verlieren. »Und wir dürfen keine Geheimnisse mehr voreinander haben«, beschwor sie die anderen. »Versteht ihr? Mehr denn je sind wir alle aufeinander angewiesen, mit unserem ganzen Leben. Keine Geheimnisse mehr.«
     
    Feuer konnte in diesem unfertigen Land zum Brennen gebracht werden, aber die Nacht ließ sich nicht herbeizaubern. Sie redeten und debattierten viele Stunden lang, lachten und weinten sogar ein wenig, und schließlich legten sie sich bei dem gleichen, unveränderten Licht zum Schlafen hin.
    Während sie Wache saß, betrachtete Renie den merkwürdig neutralen Himmel und dachte an ihren Bruder Stephen.
    Ich komme, mein kleiner Mann, versprach sie ihm. Ihr stilles Gelöbnis war nicht nur an Stephen gerichtet, sondern auch an sich selbst, und es war eine Warnung an alle und jeden, die sich ihr noch in den Weg stellten. Ich komme und werde dich finden.
    Von jetzt an, schwor sie sich, würde sie ihre Augen weit offen halten.

 
Ausblick
     
    Er lag an einem Strand, das Gesicht im hellen Sand. Nach der langen Nacht in Venedig war es eigenartig, wieder die Sonne auf der Haut zu spüren, vor allem diese pralle Sonne, die den Sand schneeweiß bleichte und das blaue Meer in einen glänzenden, glasierten Teller verwandelte.
    Paul erhob sich mit schmerzenden Muskeln und blickte die menschenleere Küste auf und ab. Sogar der Himmel war leer bis auf ein paar ausfransende Wolkenfähnchen und die monogrammartigen Silhouetten von Seevögeln, die langsam von den Steilfelsen hinab zum Meer kreisten und wieder hinauf.
    Ein großes, niedriges Haus aus Stein und Holz stand hoch oben auf der Uferanhöhe, umgeben von einer Mauer. Hirten, die durch den Hitzeschleier nur als winzige verschwommene Flecken zu erkennen waren, trieben ihre Herden zu den Toren hinaus und die Bergpfade hinunter, und ein mit tönernen Krügen hoch beladener Wagen wurde an ihnen vorbei in den Hof geschoben. Paul warf abermals einen Blick über den Strand und hinaus auf das sonnenblitzende Meer, dann wandte er sich um und schritt auf das Haus dort oben zu.
    Etwas, das noch weißer war als der Sand, erregte seine Aufmerksamkeit. Er ging in die Hocke, um es in Augenschein zu nehmen, und es erwies sich als das halb vergrabene Gerippe eines Vogels, vom Wind oder von Aasfressern zerlegte durchscheinende Knochen. Paul hatte ein vages Verwandtschaftsgefühl. Genauso war ihm innerlich zumute – ausgebleicht, blankgescheuert, trocken. Es gab Schlimmeres, als sich hier in die Sonne zu legen und sich vom Sand begraben, von der Flut überspülen zu lassen.
    Wenn er eine Münze gehabt hätte, hätte er sie geworfen, um sie sein Schicksal entscheiden zu lassen, denn ihm war es dermaßen gleichgültig, ob er weiterging oder sich hinlegte, daß er die Wahl gern den Göttern überlassen hätte. Aber die Lumpen, die ihn bekleideten, bargen nichts als Salz und Sandflöhe.
    Du wolltest dich nie wieder treiben lassen, sagte er sich – ein trostloser Witz. Er ging weiter über den Strand auf den Fuß eines der Bergpfade zu.
     
    Keiner der Sandalen tragenden, bärtigen Männer an den Toren versuchte, ihn am Eintreten zu hindern, wenn auch mehrere rohe Bemerkungen über seinen verlotterten Zustand und sein Alter machten. Außerstande, sich darum zu scheren, was irgend jemand dachte, zumal Schatten wie diese, Replikanten ohne jeden Begriff von den Fäden, an denen sie tanzten, stapfte er weiter. Ziegen und ein paar Schweine beschnupperten seine Fetzen nach etwas Eßbarem, aber von den menschlichen Bewohnern schenkte ihm keiner soviel Beachtung, bis er im Schatten, der auf der Schwelle des
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