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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe
Autoren: Gabriela Jaskulla
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suchte. Sie
war allein unterwegs gewesen, und sie hatte nachgedacht, und dann hatte sie das Licht überwältigt. Was bot die See nur für Farben, wenn der Himmel ihr drei Viertel des Horizonts überließ! Der Himmel schien zu glühen, in dem grünen, überirdischen Schimmer, wie er sich auf den Dächern alter Kirchtürme findet, nur entschiedener und tiefer. Es war ein Grün, das die Macht und den Abgrund der See augenblicklich klarmachte, ein Grün aus den Tiefen. Dort unten war es gebraut worden, hatte es ein Hexenmeister zusammengerührt und nach oben gewirbelt. Doch erst in der Luft breitete sich der unerhörte Farbton flächig aus, bemächtigte sich des Himmels, und protestierend schossen kleine Flammenfontänen hin und her. Das Nordlicht war ein gewaltiges Spektakel, weit entfernt und geheimnisvoll, und Julia war seitdem immer wiedergekommen, es zu bewundern, weil es ihr den Fluß der Elemente zu versinnbildlichen schien. Aber die Erscheinung machte sich rar. Heute jedenfalls hatte sich der Frost aus dem Norden allen Lebens bemächtigt, griff mit seinen großen, groben Händen nach allem, was sich bewegte.
    Beim Zurückgehen kamen Julia ein paar Männer entgegen, die schwer an offenbar selbstgebauten hölzernen Wagen schleppten. Nein, es waren keine Wagen - Kufen ersetzten die Räder. Die Männer rechneten damit, daß das flache Wasser zwischen kleiner und großer Insel bald zufröre; sie wollten gewappnet sein. Dann nämlich kämen die Gefährte zum Einsatz, die sie schon jetzt an den Strand schleppten, hölzerne Schlitten, zu groß und schwer, als daß sie kindlichen Vergnügungen hätten dienen können, und die meisten offenbar schon seit Generationen ausgebessert, geflickt und mit Drähten und Tüchern umwickelt. Immer zu viert trugen sie einen Schlitten, setzten ihn ab, holten den nächsten. Julia ging näher. Es roch nach altem, trockenem Holz, nach Öl und nach Kälte. Die Kufen der Schlitten waren
vorn hochgebogen und durch einen Steg verbunden. Dazwischen waren Bänke befestigt, die die Mitte des seltsamen Gefährts offenließen. Wozu sollte das gut sein? Piekschlitten waren das, erklärten die Männer, mit denen gingen die Seeleute bei Eis auf den Bodden. Sie schlugen mit Äxten Löcher in die Eisschicht und angelten auf diese Weise Hechte. Und wenn die Eisschichten die kleine Insel noch so fest umklammerten, der Fischfang ruhte doch nie... Und weiter schleppten sie die schweren Schlitten, grüßten noch kurz zum Abschied.
    Als Julia die Gartenpforte wieder aufschloß, war es hell. Und dann sah sie es: ihr Fahrrad. Das Fahrrad, das sie vor Wochen bei Marianne Brant vergessen hatte, damals, beim großen Streit mit Hanno, war wieder da! Irgend jemand mußte es zurückgebracht haben. Hatte es am Abend schon am Gartenhäuschen gelehnt? Julia überlegte. Sicher nicht. Aber wer hatte in der Nacht… Julia fuhr zusammen: Hanno! Also hatte sie die Begegnung womöglich doch nicht geträumt? Sie rannte zum Hauptgebäude, stürmte hinein:
    »Anne, Anne...« Anne hatte gewartet, brühte heißen Kaffee.
    »Nein, ich war’s nicht«, sagte sie nur. »Komm, setz dich.«

    Und dann schlug die Kälte zu. Peitschend. Scharf und ohne Erbarmen. Binnen weniger Tage war der Bodden zugefroren, wie es die Fischer vorausgesagt hatten. Und obendrein drehte der Wind. Irgendwo über dem Atlantik traf kalte Luft aus polaren Regionen auf wärmere Strömungen. Allzu groß waren die Gegensätze der Temperaturen, die Beschaffenheiten der Lüfte. Winde wuchsen, wuchsen unaufhaltsam, wucherten vom Atlantik über die nördlichen Teile der Britischen Inseln, griffen auf die Höhen der Nordsee über und bemächtigten sich des Ostseeraums. Gegenläufige Strömungen prallten auf sie, und der mächtigste dieser
Ströme drehte schließlich auf Nordwest. Tagelang blies der Sturm, vereiste die Fenster. Die Menschen verkrochen sich, nur Marianne und ihre Schützlinge kamen auffallend oft nach Stiftsdorf, vorgeblich, um Besorgungen zu machen, in Wahrheit wohl eher, weil es da oben im Föhrenwald blies zum Gotterbarmen. Es war die Sorte Wind, die in alten Leuten Erinnerungen wachrief. Anne Bult telefonierte öfter »mit Berlin«, wie sie sagte, und Julia wußte, daß »Berlin« dieser Krüger war. Und abends, in der Scheune, wo die Leute plötzlich doch wieder beieinanderhockten wie früher, erzählten sie sich Geschichten zum Zeitvertreib, Geschichten von anderen, fürchterlichen Stürmen, bis sie sich allesamt so sehr gruselten, daß auch kein
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