Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Orangentage

Orangentage

Titel: Orangentage
Autoren: Iva Procházková
Vom Netzwerk:
sie lieb haben, wie sie war – hatte die Mutter gesagt. Nie hatte Darek mit ihr darüber diskutiert, aber oft überlegte er, ob man Liebhaben anordnen konnte.
    Â»Lauf doch zu deiner bescheuerten Schwester, damit sie nicht von einem Dreirad überfahren wird!«, grölte Hugo hinter ihm her. Dann kam ein Stein geflogen, er verfehlte jedoch sein Ziel. Hugo war ein schwerer Brocken, aber zielen konnte er nicht, deswegen wurde er beim Fußball immer ins Tor gestellt. Darek hörte auf, sich umzublicken, und rannte Richtung Grafenschule los, deren abgeblätterter Schornstein hinter dem Hügel hervorschaute. Die Dachrinne war angerostet, der Putz bröcklig und auch sonst strahlte das Gebäude nur wenig Aristokratisches aus, aber es befand sich an der Stelle des ehemaligen Grafenhofs. Obwohl kaum jemand in Piosek sagen konnte, um welchen Grafen es sich eigentlich handelte und wo er sein Ende gefunden hatte, bemühte sich niemand um einen aktuelleren Namen für die Schule. Es war eine Grundschule; die älteren Schüler gingen in ein anderes Gebäude am Rand des Dorfes. Darek war diese Aufteilung nur recht. So war er wenigstens vormittags Ema los, musste ihr nicht in den Gängen begegnen und mit ihr die Pausen auf demselben Schulhof verbringen. Manchmal gelang es ihm, sie ganz zu vergessen. In solchen Momenten fühlte er sich leicht und sorglos. Er kickte oder schwang sich übers Klettergerüst und wetteiferte mit den anderen, wer die Hängebrücke kräftiger zum Schaukeln brachte. Aber wenn er sich mitten im Spiel an seine Schwester erinnerte, blieb ihm das Lachen im Hals stecken und er schaute sofort auf die Uhr, getrieben von der Furcht, zu spät zu kommen und dass Ema seinetwegen etwas zustoßen könnte. Diese Furcht verfolgte Darek überallhin, wie ein lästiger Hund, der sich nicht wegjagen ließ.
    Wie er es vermutet hatte, wartete sie schon auf ihn. Sobald er um die nächste Ecke bog, tauchte Ema vor ihm auf. Sie stand ans Geländer gelehnt und sprach mit ihrer Klassenlehrerin, Frau Paterova. Darek verspürte Erleichterung. Die Anwesenheit eines Erwachsenen schüchterte die Spötter meistens ein. Sie trieben ihren Spaß gerne ungestört. So wie Hugo. Auf seinen Auftritt heute Morgen hatte er sich bestimmt schon zu Hause vorbereitet. Mit einer Schere in der Jackentasche hatte er sich im morgendlichen Tumult am Grundschultor unauffällig Ema genähert. »Es ist höchste Zeit, dir die Hörner zu stutzen«, hatte er verkündet. Bevor Darek verstand, was geschah, hob Hugo die Hand, in der er die Schere hielt, und schnitt Ema eine dicke Haarsträhne ab. Er lächelte dabei und Ema lächelte zurück, denn sie konnte sich nicht so schnell zusammenreimen, was passierte. Sie ahnte nicht, dass auf ihrem Kopf ein hässliches Gestrüpp entstanden war, das sie zur Zielscheibe noch blöderer Sprüche machen würde. Sie lächelte, weil ein Lächeln ihr spontanster Ausdruck war.
    Auch jetzt lag es auf ihrem Gesicht. Sie hielt die Ranzengurte mit beiden Händen fest, schaute strahlend zur Lehrerin hoch und nickte immer wieder. Dabei bewegte sich ihr schief geschnittenes Haar auf und ab wie eine rote Bürste.
    Â»Hallo!«, rief sie, als sie Darek erblickte. Sie lief ihm entgegen und umarmte ihn. »Was hast du mir mitgebracht?«
    Jedes Mal fragte sie ihn, was er ihr mitbrachte. Sie dachte bestimmt, dass Darek nichts Besseres zu tun hatte, als sich nach Geschenken für sie umzusehen.
    Â»Guten Tag«, grüßte Darek zuerst die Lehrerin. (»Vergiss nicht, anständig zu grüßen«, war eine von Mutters häufigsten Anweisungen gewesen, verkörpert durch einen der ältesten Knoten, die Darek je gemacht und später wieder gelöst hatte, weil ihm sowohl das Grüßen als auch das Einkaufen für Herrn Havlik inzwischen zur festen Angewohnheit geworden war.) Er griff in seine Hosentasche. Vorhin hatte sich eine Praline von Mischa dort befunden, jetzt konnte Darek leider nur noch ein Stück Kiefernrinde ertasten. Die Praline war weg. Er hatte sie wahrscheinlich am Friedhof bei der Schlägerei verloren. Statt der Praline reichte er Ema die Rinde. »Da, nimm!«
    Â»Was ist das?«
    Â»Ein Boot.«
    Sie drehte die Rinde misstrauisch zwischen den Fingern. »Wo denn?«
    Â»Drinnen.«
    Â»Dann hol es raus.«
    Â»Erst zu Hause.«
    Â»Warum?«
    Darek wollte gerade antworten,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher