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Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)

Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)

Titel: Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
Autoren: Stephan Orth
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Komforttemperatur minus acht Grad. Ganz schön kalt wird es nachts. Morgens laufen wir zusammen zum See, um in großen Plastikeimern Wasser zu holen. Nein, wir sind nicht zurück in der Wildnis, das ist nur der Alltag im baufälligen Haus meines Opas: Leitungen und Heizung sind kaputt, nur in ein paar Zimmern sorgen elektrische Heizkörper für Wärme, ein Internetanschluss existiert nicht. Wer sich waschen will, muss den Wasserkocher in der kleinen Küche im Dachgeschoss anschmeißen. Meine Eltern machen einen zufriedenen Eindruck.
    Im Jahr 1920 hat Opa die Alte Mühle gekauft, die Ruine eines riesigen Anwesens am See mit verfallenem Mühlrad. Ein historisches Gebäude, 1158 wurde es erstmals urkundlich erwähnt. Sein Vater lieh ihm Geld, dafür zog dann die ganze Familie ein. Platz hatten sie in den mehr als 20 Zimmern genug. Opa wohnte mit seinem »Marieli« im Obergeschoss, sie hatte sich nach seiner Grönlandreise überraschend gut von ihrer Krankheit erholt. Er renovierte das ganze Gebäude, legte einen Rosengang im Garten an und errichtete ein Bootshaus. Manchmal drehte er auf dem Ammersee ein paar Runden in einem seiner zwei Grönlandkajaks – den zweiten baute er 1921 mit besonders edlen Verzierungen aus Walrosszahn, die er von der Reise mitgebracht hatte.
    Das Kajak steht jetzt im Untergeschoss, eine dicke Staubschicht verdunkelt die Außenhaut aus Segeltuch, das mit weißer Ölfarbe angestrichen ist. Innen steht in gestempelten Buchstaben »FACIEBAT ANNO MDCCCCXXI«, wie in einem edlen Musikinstrument. »Als Kind bin ich damit auch gefahren«, erzählt meine Mutter. Das Licht in dem Raum funktioniert nicht, wir müssen die schweren Fensterläden zum See hin öffnen, um etwas sehen zu können. Immer wieder bleiben draußen Wanderer stehen und starren herein, ein so exotisches Paddelboot haben sie in Herrsching noch nicht gesehen. Der Rumpf ist so flach, dass ich mir kaum vorstellen kann, länger als eine halbe Stunde die Beine darin stillzuhalten. Und die vier waren damals auf dem Weg zum Depot neun Stunden ohne Pause unterwegs!
    Das dazugehörige Paddel, ein wunderbar geschliffenes Exemplar aus Holz und Knochen, trägt die Aufschrift »Tassiusak«, gedruckt mit den gleichen Stempelbuchstaben wie das »Faciebat anno«. Tassiusak ist die alte Inuitbezeichnung für den Ort Tasiilaq.
    Früher hingen in diesem Raum auch die ganzen Inuitwaffen an der Wand, in ihrer Anordnung einen Halbkreis bildend, eine ziemlich martialische Raumdekoration. Erst später kamen sie in die Grönland-Diele, wie ich sie als Kind kannte.
    Dort lag auch lange Zeit ein Eisbärenkopf, den meine Mutter jetzt aus einem Holzschrank mit Glastür holt. »Irgendwann mussten wir den da wegnehmen, weil alle Gäste den immer angefasst haben.« Dabei fiel er einmal auf den Boden, der Unterkiefer ist in der Mitte gespalten. Mit Metallschrauben wurde er repariert, doch die haben sich wieder gelöst. Überraschend klein ist so ein Schädel im Vergleich zum massigen Körper eines solchen Tieres.
    Ich habe Opa in Bewegung gesehen, seine Urne in der Hand gehalten, seine Texte gelesen, bin seinen Spuren gefolgt. Ein Puzzleteil fehlt noch. »Gibt es eine Aufnahme von seiner Stimme?«, frage ich. »Wir haben ein Tonband von einer Rede, die er bei der Eröffnung der Sparkasse in Landshut 1954 gehalten hat«, sagt meine Mutter. »Sind aber nur vier Minuten.«
    Ich baue das alte Dual-Abspielgerät auf, sie sucht die Kassette. Viele Reden sind da drauf, Bürgermeister und Banker, zwischendurch spielt ein Streichquartett. Ich spule vor, bis als nächster Redner der Architekt angekündigt wird. Dumpfes Applausrauschen. »Hochverehrte Festversammlung!«, sagt er, eine typische Fünfzigerjahre-Tonbandstimme, leicht verzerrt, eher Tenor als Bass, feierlicher Tonfall. Ich hatte erwartet, dass er einen bayrischen Dialekt mit leichten schweizerischen Anklängen spricht, heimlich sogar auf ein versehentliches -li am Wortende gehofft. Doch weit gefehlt: Opa sächselt! Das ist eine echte Überraschung, lebte er doch die längste Zeit in Zürich oder in Bayern.
    Marie Günther muss schuld sein, das Marieli aus Dresden. 19 Jahre lang waren sie verheiratet bis zu ihrem Tod 1938. Roderich hatte viel Kontakt zu ihrer Familie, auch dort konnte er seine Dialektkünste verfeinern. Was nicht seine Absicht war: »Einmal hat ihm jemand gesagt, dass er sächsisch klingt, da war er richtig beleidigt«, erzählt meine Mutter.
    Der Tonband-Opa dankt den Auftraggebern und Ingenieuren,
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