Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen
Autoren: Oliver Sacks
Vom Netzwerk:
man doch rasch ihren grundsätzlichen Bedeutungsaspekt, denn die winzigen Funken oder Szintillationen, die man hier sah, stammten aus dem Zerfall einzelner Radiumatome. Es waren die Alphateilchen, die dabei emittiert wurden. Niemand hätte gedacht, sagte Onkel Abe, dass man jemals in der Lage sein würde, die Effekte einzelner Atome zu sehen oder sie gar zu zählen.
    «Wir haben hier weniger als ein Millionstel Milligramm Radium, und doch zeigen sich auf der kleinen Fläche des Schirms Dutzende von Szintillationen pro Sekunde. Stell dir vor, wie viele wir bei einem Gramm Radium hätten - bei der milliardenfachen Menge.»
    «Hundert Milliarden», sagte ich nach einem schnellen Überschlag.
    «Ungefähr», sagte Onkel. «Hundertsechsunddreißig Milliarden, um genau zu sein - die Zahl verändert sich nie. Jede Sekunde zerfallen in einem Gramm Radium hundertsechsunddreißig Milliarden Atome und schießen ihre Alphateilchen ab - wenn du dir überlegst, dass dies auf Tausende von Jahren so weitergeht, bekommst du eine Ahnung davon, wie viele Atome sich in einem einzigen Gramm Radium befinden.»
    Um die Jahrhundertwende hatten Experimente gezeigt, dass vom Radium nicht nur Alphateilchen, sondern auch verschiedene andere Strahlenarten emittiert wurden. Die meisten Erscheinungen der Radioaktivität ließen sich auf diese verschiedenen Strahlenarten zurückführen: Die Fähigkeit, Luft zu ionisieren, war das besondere Vorrecht der Alphastrahlen, während die Fähigkeit, Fluoreszenz hervorzurufen oder auf fotografische Platten einzuwirken, sich bei Betastrahlen ausgeprägter zeigte. Jedes radioaktive Element hatte seine eigenen charakteristischen Emissionen: Radiumpräparate emittierten sowohl Alpha- als auch Betastrahlen, Poloniumpräparate hingegen nur Alphastrahlen. Uran schwärzte eine fotografische Platte schneller als Thorium, aber Thorium eignete sich besser, ein Elektroskop zu entladen.
    Die beim radioaktiven Zerfall emittierten Alphateilchen (später zeigte sich, dass es sich um Heliumkerne handelte) waren positiv geladen und relativ massereich - tausendmal massereicher als Betateilchen oder Elektronen - und sie bewegten sich vollkommen geradlinig, sie durchquerten Materie direkt, ohne zu streuen oder abgelenkt zu werden (höchstens verloren sie ein bisschen von ihrer Geschwindigkeit). So jedenfalls schien es zu sein, obwohl Rutherford 1906 auch ganz selten mögliche winzige Ablenkungen beobachtete. Andere schenkten dem keine Beachtung, doch Rutherford erschienen diese Beobachtungen als potenziell bedeutungsvoll. Konnten Alphateilchen nicht als ideale Projektile dienen, um andere Atome zu beschießen und ihren Aufbau zu ermitteln? Er forderte seinen jungen Assistenten Hans Geiger und den Studenten Ernest Marsden auf, ein Szintillationsexperiment mit Leuchtschirmen durchzuführen. Sie nahmen dünne Metallfolien und zählten jedes Alphateilchen, das auf die Folien abgefeuert wurde. Als sie Alphateilchen auf ein Stück Goldfolie schössen, beobachteten sie, dass rund ein Teilchen unter achttausend eine starke Ablenkung zeigte - von mehr als 90 Grad, manchmal sogar 180 Grad. Später sagte Rutherford: «Es war das unglaublichste Ereignis, das mir in meinem Leben zugestoßen ist. Es war fast so unglaublich, als würden Sie eine 40-Zentimeter-Granate auf ein Stück Papier abfeuern und sie käme zurück und würde Sie treffen.»
    Fast ein Jahr lang dachte Rutherford über diese merkwürdigen Ergebnisse nach, bis er eines Tages, wie Geiger berichtete, «in mein Zimmer kam, offenbar bester Stimmung, und mir mitteilte, er wisse jetzt, wie das Atom aussehe und was die seltsame Streuung bedeute».
    Atome, so war Rutherford klar geworden, konnten kein homogenes positives Gelee sein, in dem die Elektronen wie Rosinen saßen (wie es J. J. Thomson mit seinem «Plumpudding-Modell» des Atoms vorgeschlagen hatte), denn dann würden die Alphateilchen sie immer ungehindert durchqueren. Angesichts der großen Energie und Ladung dieser Alphateilchen musste man davon ausgehen, dass sie gelegentlich von etwas abgelenkt wurden, das positiver geladen war als sie selbst. Doch das geschah nur einmal unter achttausend Malen. Die anderen 7999 Teilchen flitzten offenbar unabgelenkt hindurch, als bestünden die Goldatome größtenteils aus leerem Raum. Das achttausendste Teilchen wurde jedoch aufgehalten und prallte zurück wie ein Tennisball, der auf eine Kugel aus massivem Wolfram stieß. Daraus schloss Rutherford, die Masse des Goldatoms müsse im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher