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Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)

Titel: Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
Autoren: John Dickie
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ist), in der Rangfolge immer weiter auf bis hin zum
santista, vangelista
und
padrino
.
    Als wäre dies alles noch nicht kompliziert genug, sind ’Ndranghetisti uneins darüber, wie viele Blumen es insgesamt gibt und welche Rechte und Verantwortlichkeiten sie beinhalten. Es scheint in den vergangenen Jahren auch eine florale Inflation gegeben zu haben: Mit der Erfindung neuer Ränge lassen sich auf billige Art und Weise Streitereien schlichten. Der
vangelista
zum Beispiel (so benannt, weil das Initiationsritual für diesen
fiore
einen Schwur auf die Bibel beinhaltet) scheint erst vor kurzem eingeführt worden zu sein.
    Nichts davon ist harmloses Beiwerk. Die Rituale und Strukturen der Organisation bilden einen liturgischen Apparat, der junge Männer zu professionellen Verbrechern ausbilden soll und ein primitives Gangsterleben als eine höhere Berufung zur Grausamkeit stilisiert. Und diese Berufung ist, auch wenn die Mitglieder auf uralte Ursprünge pochen, erst 150  Jahre alt. So alt wie der italienische Staat selbst.

TEIL 1 Ehrenwerte Gesellschaften







1 VIVA LA PATRIA! DIE CAMORRA 1851 BIS 1861
    Wie man Gold aus Flöhen presst
    Sigismondo Castromediano, Herzog von Morciano, Markgraf von Caballino und Herr über sieben Baronien, saß auf dem Boden, die rechte Wade auf einen Amboss gelegt. Mit seinem hohen Wuchs und den blauen Augen schien er einer völlig anderen Spezies anzugehören als die neapolitanischen Kerkermeister, die vor ihm unter einem Pultdach standen und mit ihren Eisenwerkzeugen hantierten. Neben dem Herzog saß sein Landsmann Nicola Schiavoni in der gleichen würdelosen Haltung, den gleichen bangen Ausdruck im Gesicht.
    Einer der Kerkermeister packte den Fuß des Herzogs und streifte ihm ein Eisen über, das wie ein Steigbügel geformt war. Dann schloss er den Knöchel völlig ein, indem er einen Niet durch die kleinen Löcher an jedem Ende der Fußfessel trieb; dazwischen klemmte das letzte Glied einer schweren Kette. Lachend und singend, mit Schlägen, die Knochen hätten zertrümmern können, hämmerte der Kerkermeister den Niet flach.
    Der Herzog zuckte wiederholt zusammen und musste die spöttischen Ermunterungen der Wärter mit anhören: »Weiter so! Sie sind Feinde des Königs. Sie haben es auf unsere Weiber und unser Hab und Gut abgesehen.«
    Nachdem man ihnen befohlen hatte aufzustehen, hoben Castromediano und Schiavoni zum ersten Mal ihre Fesseln auf: dreieinhalb Meter lange Ketten, etwa zehn Kilo schwer. Für beide war dieser Moment der Beginn einer 30 -jährigen Kerkerstrafe wegen Verschwörung gegen die Krone des Königreichs Neapel – einer der vielen Staaten, aus denen die italienische Halbinsel sich damals zusammensetzte. Die beiden Gefangenen umarmten einander, fassten sich ein Herz und taten dann ihren ungebrochenen Glauben an die heilige Sache Italien kund: »Wir küssten diese Ketten so zärtlich«, schrieb der Herzog, »als wären sie unsere Bräute.«
    Die Wärter stutzten kurz. Doch dann fuhren sie in den Ritualen fort, die den Zugang zum Castello del Carmine markierten, einem der verrufensten Gefängnisse im Königreich. Zivilkleidung wurde durch Uniformen ersetzt, braune Hosen und rote Tuniken, beides aus grober Wolle. Mittels einer sichelförmigen Klinge schor man den Gefangenen die Köpfe kahl und blutig. Ein jeder erhielt eine mit Lumpen gestopfte Matratze, eine Decke aus Eselshaar und eine Schüssel.
    Die Sonne ging bereits unter, als der Herzog und sein Gefährte über den Gefängnishof geführt wurden und durch die Pforte schlurften.
    Was sie im Inneren des Gemäuers erwartete, erinnerte sich Castromediano, »hätte selbst die großmütigste Seele, das standhafteste Herz auszulöschen vermocht«. Er wähnte sich in einer Sickergrube: ein langer, niedriger Raum, dessen Fußboden aus spitzen Steinen bestand. Schmale Fensteröffnungen in Deckennähe waren schwer vergittert, die Luft stickig und klamm. Ein Gestank wie von faulendem Fleisch entströmte dem Unrat, der allenthalben herumlag, und den Elendsgestalten, die sich im Halbdunkel herumdrückten.
    Während die Neuankömmlinge sich ängstlich nach einem Platz für ihre Matratzen umschauten, lösten sich zwei der Gefangenen aus der Menge und kamen näher. Der eine war groß und schön, sein Auftreten stolz. Er trug schwarzsamtene Beinkleider mit polierten Knöpfen an den Hüften und einen grellbunten Gürtel; den passenden Rock zierte eine Uhr an einer Kette. Mit ausgesuchter Höflichkeit redete er die beiden
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