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Oma ihr klein Häuschen

Oma ihr klein Häuschen

Titel: Oma ihr klein Häuschen
Autoren: Janne Mommsen
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uns vor zehn Jahren das letzte Mal in Frankfurt gesehen, da war er noch blond mit dichter Riewerts’scher Wolle. Sein Gesicht war schon immer spitz und eingefallen, aber jetzt ist er noch dünner und ausgemergelter. Ungerechterweise ist das jüngere Bild in meinem Kopf als Original gespeichert, und das neue, gealterte, wertet mein Hirn als Abweichung. Cord kommt mir vor wie eine seltene Hühnerart im Amazonas, deren Namen ich leider vergessen habe. Er mustert mich mit seinen kleinen blauen Vogelaugen, in seinen Mundwinkeln hängt getrockneter Speichel.
    «Mann!», fluche ich und reibe mir den Hals, er hat ordentlich zugepackt. Wir stehen in der Küche, genauer müsste ich wohl sagen, in der
ehemaligen
Küche: An den Wänden klebt eine verblichene, ehemals weiße Raufasertapete, die an einigen Stellen abgerissen ist. Sämtliche Elektrogeräte sind ausgebaut,die Anschlusskabel liegen schlaff auf dem staubigen Boden, immerhin sind die Kabelenden abgeklebt. In der Mitte des Raumes stehen ein weißer Plastiktisch aus dem Baumarkt und zwei wacklige Billigstühle. Der einzige Lichtblick in diesem trostlosen Raum ist die nagelneue Designer-Kaffeemaschine auf dem fleckigen Fußboden, daneben stehen eine Dose Dallmeyer Prodomo und ein weißer Steingutbecher mit einer lachenden Mickymaus drauf. Was geht hier eigentlich vor?
    «Ich habe das Schloss austauschen lassen», kichert Cord und keckert dabei wie eine Krähe.
    «Ohne jemandem was zu sagen?»
    Cord ist offenbar in Hochstimmung: «Heute habe ich mir eine Zwei-Liter-Flasche Wasser gekauft und auf Ex gekippt. Dann bin ich zum Grab meines Alten gegangen und habe auf seinen Stein gepinkelt, bis ich nicht mehr konnte.»
    Das ist zwar genau genommen keine Antwort auf meine Frage, aber irgendwie kann ich ihn verstehen. Einen Vater wie seinen hätte niemand gerne gehabt: geizig und humorlos, gepaart mit unerbittlicher Strenge. Opa war Lateinlehrer am einzigen Gymnasium auf Föhr. Er badete jeden Tag in der Nordsee, auch im Winter, und wenn er sich dafür ein Loch ins Eis hacken musste. «Mens sana in corpore sano» war sein Lieblingsspruch, schon früh musste ich die Übersetzung lernen: «Gesunder Geist in gesundem Körper.» Gerüchteweise ist er mit diesem Satz auf den Lippen sogar gestorben. Das Schlimmste war eigentlich, dass er weder sich noch seiner Familie Spaß am Leben gegönnt hat, am allerwenigsten seinem Sohn Cord, den er für einen Versager hielt. Der Arme musste sich im Abitur von seinem eigenen Vater in Latein prüfen lassen und machte eine Fünf. Es gab eben nur das eine Gymnasium auf der Insel. Von da an beschränkte sichder Kontakt zwischen Vater und Sohn auf Korrespondenzen über Cords gerichtlich erstrittenen Unterhalt für die Ausbildung als Zahntechniker. Seine Mutter besuchte ihn hingegen regelmäßig und steckte ihm heimlich Geld zu. Mittlerweile ist Cord geschieden, hat ein Kind und wohnt in der Nähe von Frankfurt, soweit ich weiß. Er wird an die zwanzig Jahre nicht mehr auf Föhr gewesen sein, wie gesagt, nicht einmal zur Beisetzung seines Vaters wollte er kommen.
    «Wieso hast du das Schloss austauschen lassen?», frage ich noch einmal.
    Cord geht auch jetzt nicht darauf ein, sondern fängt stattdessen an, schaurig laut zu singen: «There iiiis a house in Neeeew Orrrrrrleans, They call the Riiiising Sun, And it’s been the ruin of many a poor boy, And God I knew I’m one   …» Dazu schlägt er mit der linken Hand unrhythmisch auf die Plastiktischplatte.
    Ist das noch normal, oder bin ich einfach zu spießig?
    Kann man statt einer Antwort auch mal singen?
    Aber selbst wenn, was soll mir das Lied sagen?
    «Cord   …? Sag was, rede mit mir, stell mir doofe Onkelfragen nach Beruf und Familienplanung, bitte!»
    Doch er singt unbeirrt weiter.
    Was für ein Tag.
    Und er ist noch nicht zu Ende.
    Von draußen wummert es gegen die Tür, eine energische Frauenstimme bellt mit schneidendem Ton: «Polizei! Öffnen Sie die Tür!»
    Wenn es erst einmal schiefläuft   …
    Cord bricht seinen Gesang ab und lächelt das erste Mal: «Maria!»
    Was? Mit meiner Cousine hätte ich als Letztes gerechnet. «Ich denke, die ist bei der Autobahnpolizei in Neumünster?»
    «Strafversetzt, behauptet meine Mutter.»
    «Öffnen Sie die Tür und kommen Sie mit erhobenen Händen heraus», tönt es von draußen. Die gleiche Aussage wie in jedem Serienkrimi – gesprochen mit Marias rauer Altstimme. Zusammen mit Cords Bass und meinem Tenor wären damit bis auf den Sopran alle
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