Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Olympos

Titel: Olympos
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
die Leiche des Gottes zu verbrennen, den er gerade niedergemetzelt hat.«
    Bevor Andromache etwas erwidern kann, lacht Kassandra im Schatten laut auf, was ihr strenge Blicke von Priamos und den a l ten Männern um ihn herum einträgt.
    Kassandra ignoriert die tadelnden Blicke und zischt Helena und Andromache zu: »Wahnsinn, gewiss. Ich habe ja gesagt, das alles ist Wahnsinn. Es ist Wahnsinn, was Menelaos gerade plant, Hel e na – deinen Tod, jetzt gleich, nicht weniger blutig als der Tod des Dionysos.«
    »Wovon redest du, Kassandra?«, flüstert Helena in scharfem Ton, aber sie ist sehr bleich geworden.
    Kassandra lächelt. »Ich rede von deinem Tod, Frau. Schon in wenigen Minuten – nur noch etwas aufgeschoben, weil ein Sche i terhaufen nicht Feuer fangen will.«
    »Menelaos?«
    »Dein ehrenwerter Gemahl«, lacht Kassandra. »Dein ehemal i ger ehrenwerter Gemahl. Derjenige, der nicht wie verkohlter Kompost auf einem Holzhaufen verwest. Hörst du nicht Menelaos ’ sto ß weißes Atmen, während er sich bereitmacht, dich niederzust e chen? Riechst du nicht seinen Schweiß? Hörst du nicht, wie sein schändliches Herz klopft? Ich schon.«
    Andromache wendet sich von der Bestattungszeremonie ab und tritt näher an Kassandra heran, bereit, sie von der Tribüne in den Tempel zu führen, wo man sie nicht mehr sehen und hören kann.
    Kassandra lacht erneut und zeigt ihr einen kurzen, aber sehr spitzen Dolch in ihrer Hand. »Wenn du mich anrührst, du Drec k stück, schlitze ich dich genauso auf wie du dieses Skl a venbaby aufgeschlitzt hast, das du als dein Kind bezeichnet hast.«
    »Schweig!«, zischt Andromache. Ihre Augen sind auf einmal zorngeweitet. Priamos und die anderen alten Männer drehen sich wieder zu ihnen um und schauen sie finster an. Halb taub, wie sie es in ihrem vorgerückten Alter sind, haben sie die Worte offenbar nicht verstanden, aber der Ton des zornigen Geflüsters und Gez i schels muss für sie unmissverständlich sein.
    Helenas Hände zittern. »Du hast mir doch selbst gesagt, Ka s sandra, dass all die Vorhersagen aus den Jahren deiner Unte r gangsprophezeiungen falsch waren. Troja steht noch, Monate nach dem Zeitpunkt seiner von dir vorhergesagten Zerstörung. Priamos lebt und ist nicht hier im Tempel des Zeus getötet wo r den, wie von dir prophezeit. Achilles und Hektor sind ebenfalls noch am Leben, obwohl du jahrelang behauptet hast, sie würden noch vor dem Fall der Stadt sterben. Keine von uns Frauen ist in die Sklaverei verschleppt worden, wie du vorhergesagt hast, w e der du in Agamemnons Haus – wo Klytämnestra, wie du uns e r zählt hast, diesen großen König ebenso erschlagen würde wie dich und deine kleinen Kinder – noch Andromache nach … «
    Kassandra legt den Kopf in einem stummen Schrei in den N a cken. Unter ihnen bietet Hektor den Windgöttern immer noch O p fer und Honigwein dar, wenn sie nur den Scheiterhaufen seines Bruders entzünden. Gäbe es das Theater bereits, würden die A n wesenden dieses Drama fast schon für eine Farce halten.
    »Das alles ist fort«, flüstert Kassandra und zieht sich die rasie r messerscharfe Klinge ihres Dolches mehrmals über den U n terarm. Blut rinnt über ihre blasse Haut und tropft auf den Marmor, aber sie schaut kein einziges Mal nach unten. Ihr Blick bleibt auf An d romache und Helena gerichtet. »Die alte Zukunft gibt es nicht mehr, Schwestern. Die Moiren haben uns verla s sen. Unsere Welt und ihre Zukunft haben aufgehört zu existi e ren, und eine andere – ein seltsamer anderer Kosmos – ist ins Dasein getreten. Apollos Fluch des zweiten Gesichts ist jedoch nicht von mir genommen, Schwestern. Menelaos wird jeden Moment hier heraufgerannt kommen und dir sein Schwert in die hübsche Brust stoßen, Helena von Troja.« Die letzten drei Wörter speit sie mit unverhülltem Sa r kasmus hervor.
    Helena packt Kassandra an den Schultern. Andromache en t windet ihr das Messer. Zusammen drängen die beiden die jü n gere Frau zwischen die Säulen und in den kühlen Schatten des Zeustempels zurück. Die hellsichtige junge Frau wird gegen das Marmo r geländer gedrückt, und die beiden älteren Frauen ragen wie Erinnyen über ihr auf.
    Andromache hebt die Klinge an Kassandras blasse Kehle. »Wir sind seit Jahren Freundinnen, Kassandra«, zischt Hektors Gema h lin, »aber wenn du noch ein Wort sagst, du verrücktes Weibsbild, schneide ich dir die Kehle durch wie einem zum Ausbluten au f gehängten Schwein.«
    Kassandra lächelt.
    Helena
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher