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Oliver Twist

Oliver Twist

Titel: Oliver Twist
Autoren: Charles Dickens
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nämlich zwei Töchter«, fiel Mr. Brownlow ein. »Was war das Schicksal der jüngsten?«
    »Der Vater starb«, berichtete Monks. »Er hatte sich in einem abgelegenen Orte von Wales niedergelassen, einen falschen Namen angenommen, war gestorben, ohne das geringste Schriftstück zu hinterlassen, der Schande seiner ersten Tochter wegen und damit niemand von Verwandten oder Freunden von ihm erführe. Seine jüngste Tochter wurde von armen Leuten in Pflege genommen und später wie ihr eigenes Kind erzogen.«
    »Erzählen Sie weiter«, forderte Mr. Brownlow Monks auf und gab Mrs. Maylie ein Zeichen, näher zu treten.
    »Haß spürt nicht selten auf, was der treusten Liebe oft mißglückt, und so kam es, daß meine Mutter den Ort auffand – nach langem Suchen – und nicht nur den Ort, sondern auch das Kind.«
    »Und sie nahm das Kind zu sich, nicht wahr?«
    »Nein. Die Leute, die das Kind zu sich genommen hatten, waren arm und fingen bereits an, ihren Edelmut zu bereuen. Meine Mutter ließ ihnen das Mädchen, gab ihnen ein wenig Geld und versprach, ihnen mehr zu schicken, was sie aber natürlich nie tat, denn die Armut und Unzufriedenheit der Leute verbürgten, daß das Kind unglücklich werden mußte. Meine Mutter empfand dies als süße Rache. Und um dem Kind das Leben noch bittrer zu machen, erzählte sie den beiden Bauersleuten von einer Schande der Schwester und befahl ihnen, nur ja recht acht auf das Kind zu geben, denn es stamme aus schlechtem Blut. Sie sagte ihnen auch, es sei ein uneheliches Kind und werde dieselben Wege wandeln wie seine Mutter und seine Schwester. Die Leute schenkten ihr Glauben, und das Kind führte demgemäß ein Leben, wie es meine Mutter in ihrer Rachsucht nur wünschen konnte. Da sah eine Witwe, die damals in Chester wohnte, das Kind, fühlte Mitleid mit ihm und nahm es zu sich. – Als ob der Teufel seine Pfoten im Spiel gehabt hätte, – allen unsern Bemühungen zum Trotz, blieb das Kind bei der Witwe und wurde glücklich. Ich habe es später aus den Augen verloren und erst vor wenigen Monaten als Erwachsene wiedergesehn.«
    »Und wo ist die Betreffende?«
    »Hier. Es ist diese junge Dame hier.«
    Rose fiel beinahe in Ohnmacht. Mrs. Maylie umarmte sie und rief aus: »Du bist und bleibst doch meine liebe, liebe Nichte, mein heißgeliebtes Kind. Nicht um alle Schätze der Welt würde ich dich hergeben.«
    »Wie soll ich das alles nur ertragen!« schluchzte Rose und hängte sich an Mrs. Maylie. »Du bist mir stets die liebreichste Mutter gewesen.«
    Mrs. Maylie küßte sie und deutete auf Oliver. »Sieh lieberhierher, Rose, der arme Junge, er will dich in seine Arme schließen.«
    »Nie werde ich sie Tante nennen – Schwester, meine liebe, liebe Schwester«, jubelte Oliver und schlang seine Arme um Rose Maylie. »Von Anfang an, als ich dich gesehen, hat mir etwas im Herzen gesagt, es müsse ein Grund dasein, weshalb ich dich so innig liebe.«
    Ein leises Klopfen an der Türe meldete, daß jemand draußen sei. Oliver öffnete, schlüpfte hinaus und machte Harry Maylie Platz.
    »Ich weiß alles«, sagte dieser leise und setzte sich neben das errötende Mädchen. »Liebe Rose, ich weiß alles. Ich bin nicht zufällig hier«, setzte er nach langem Schweigen hinzu. »Ich habe auch nicht erst heute alles erfahren. Errätst du nicht, daß ich komme, dich an ein Versprechen zu erinnern?«
    »Still«, sagte Rose. »Weißt du alles?«
    »Ja, alles. Und ich komme, dich heute an ein Versprechen zu erinnern, das du mir gegeben hast. Nicht um deinen Entschluß zum Wanken zu bringen, sondern um diesen Entschluß noch einmal aus deinem Munde zu hören. Ich wollte dir alles zu Füßen legen, was ich mir an Stellung erringen könnte, und ich habe mir gelobt, auch nicht durch ein Wort deinen Entschluß zu ändern zu versuchen, wenn du darauf beharren würdest – willst du auch heute nichts mehr von mir wissen, Rose?« stieß er plötzlich hervor.
    »Harry, Harry«, rief das junge Mädchen und brach in Tränen aus, »könnt’ ich mir doch alle diese Qual ersparen.«
    »Warum machst du dir denn Qualen?« fragte Harry und ergriff ihre Hand. »Erinnere dich doch, was du heute abend gehört hast, Rose.«
    »Und was habe ich gehört?« unterbrach ihn Rose. »Daß mein Vater im Gefühle der Schmach, die seinen Namengetroffen, sich vor der Welt verkroch –, bitte, rede nicht mehr davon, Harry, es ist genug.«
    »Nein, noch nicht, noch nicht«, bat der junge Mann und hielt sie zurück, als sie aufstehen wollte.
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