Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oliver Twist

Oliver Twist

Titel: Oliver Twist
Autoren: Charles Dickens
Vom Netzwerk:
»Alles in mir, meine Hoffnungen, meine Wünsche, meine Aussichten, alles, alles im Leben hat sich bei mir geändert, bloß meine Liebe zu dir nicht. Ich kann dir nicht eine hohe Stellung mehr inmitten einer uns umtosenden Menge bieten und auch keinen Verkehr mehr mit einer Welt voll Bosheit und Niedertracht. Was ich dir bieten kann, Rose –, ist nur ein Heim – ein Herz und eine Heimat.«
    »Was soll das heißen?« fragte Rose mit unsicherer Stimme.
    »Nicht viel, Rose. Es soll nicht viel mehr bedeuten, als daß ich dich, mein teuerstes Lieb, damals verließ mit dem festen Entschluß, alle Hindernisse zu beseitigen, die zwischen dir und mir nach deiner Ansicht vorhanden sein könnten. Es war meine Absicht, deine Welt zu meiner Welt zu machen, wenn schon die meinige nicht die deinige sein könnte. Ich konnte nicht länger dulden, daß Geburtshochmut die Nase rümpfen durfte über dich. Ich beschloß, mit dieser törichten Einbildung zu brechen. Und das habe ich getan, Rose. Gewiß, die hohen Persönlichkeiten, einflußreichen Verwandten und dergleichen, die einst freundlich lächelten, wenn sie mich sahen, kennen mich jetzt nicht mehr, aber es gibt ja in England lachende Felder und Wiesen genug, und neben einer Dorfkirche, die ich kenne, steht – mein Eigentum, ein kleines Pfarrhaus, das mich stolzer macht, als hätte ich die größte Stellung erklommen. Das ist jetzt mein Rang und meine Stellung, und ich lege sie dir zu Füßen.«
    »Es ist wirklich eine Geduldsprobe, wenn man mit dem Abendessen auf Verliebte warten muß«, sagte Mr. Grimwig und fächelte sich mit dem Taschentuch die Stirn.
    Allerdings ließ das Abendessen ungebührlich lange auf sich warten, und weder Mrs. Maylie noch Harry, noch Rose konnte ein Wort der Entschuldigung vorbringen.
    »Ich habe schon ernstlich erwogen, ob ich nicht wirklich heute abend einmal meinen Kopf auf der Stelle aufessen sollte«, sagte Mr. Grimwig. »Hunger wenigstens hätte ich genug. Wenn Sie übrigens erlauben, nehme ich mir die Freiheit, die künftige Braut mit einem Kuß zu begrüßen.«
    Und ohne einen Moment Zeit zu verlieren, folgten Doktor Losberne und Mr. Brownlow seinem Beispiel.
    Nur Oliver hatte Tränen in den Augen.
    »Warum, lieber Oliver, siehst du so traurig aus?« fragte Rose, als sie es bemerkte. »Wie? Tränen in diesem Augenblick?«
    Wir alle leben in einer Welt der Täuschungen, und oft schlagen gerade die Hoffnungen fehl, auf die wir am heißesten bauen und die unsrer Natur die meiste Ehre machen.
    Der arme kleine Dick war tot.

ZWEIUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL
    Fagins letzte Nacht
     
    Kopf an Kopf stand die Menge im Gerichtssaal. Kein Auge, das nicht auf Fagin gerichtet gewesen wäre. Der Jude stützte sich auf das Geländer. Die andre Hand hielt er ans Ohr und streckte den Kopf weit vor, damit ihm kein Wort des Richters entginge. Bisweilen blickte er scharf nach den Geschworenen hinüber, dann wieder angstvoll nach seinem Verteidiger. Dabei regte er weder Hand, noch Fuß, und Angst malte sich in seinem Gesicht. Die Geschworenen hatten sich zurückgezogen zur Beratung. Als sie wieder zurückkehrten, gingen sie dicht an ihm vorüber. Ihre Gesichterwaren wie aus Stein gemeißelt. Tiefe Stille herrschte im Saal, kein Knistern, kein Rascheln, kein Hauch. – Dann wurde das Urteil gefällt: schuldig.
    Als das erregte Murmeln der Zuhörer verstummte, wurde Fagin gefragt, ob er noch etwas vorzubringen habe. Er hatte seine lauschende Haltung wieder eingenommen und sah gespannt auf den Richter, der ihm die Frage stellte. Sie mußte ihm zweimal wiederholt werden, ehe er sie zu hören schien. Dann stammelte er mit schwerer Zunge: er sei ein alter Mann – ein alter Mann – ein alter Mann. Und seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. Dann saß er wieder regungslos da und schwieg.
    Der Richter setzte sich seine schwarze Kappe auf. Eine Frau auf der Galerie schrie plötzlich auf, erschreckt über die unheimlich feierliche Handlung. Fagin blickte hinauf wie jemand, der durch eine Unterbrechung gestört wird, und lauschte noch gespannter. Die Rede des Richters wurde immer feierlicher und eindrucksvoller, und der Urteilsspruch war furchtbar anzuhören. Aber Fagin stand da wie aus Marmor, ohne daß auch nur ein Nerv in ihm gezuckt hätte. Der Unterkiefer hing ihm herab, und er starrte vor sich hin, bis ihm der Schließer die Hand auf den Arm legte und ihm winkte, ihm zu folgen. Geistesabwesend gehorchte er.
    Man brachte ihn ins Gefängnis zurück. Er wurde visitiert,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher