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Oliver Twist

Oliver Twist

Titel: Oliver Twist
Autoren: Charles Dickens
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enthüllten, verschwand der kleine Oliver fast ganz hinter den flatternden Kleidungsstücken. Als sie sich knapp vor ihrem Ziel befanden, hielt es Mr. Bumble für an der Zeit, seinen Blick zu senken und sich zu überzeugen, ob der Junge soweit präsentabel sei, um das Wohlgefallen seines neuen Meisters und Herrn erwecken zu können.
    »Oliver!« sagte er.
    »Ja, Sir?« erwiderte Oliver mit bebender Stimme.
    »Schieb dir die Mütze aus der Stirn, Junge, und halte dich gerade.«
    Trotzdem Oliver augenblicklich gehorchte und sich mit dem Handrücken über die feuchten Augen fuhr, schimmerte doch noch eine Träne darin, und wie Mr. Bumble mit Strenge auf ihn herniederblickte, rollte ihm die Träne die Wange hinunter. Eine zweite Träne folgte und noch eine dritte. Der Kleine gab sich alle Mühe, aber es half nichts. Er zog die andre Hand aus Mr. Bumbles Hand, bedeckte sein Gesicht und weinte, bis ihm die Tränen über das Kinn herabtropften und zwischen den magern Fingern hervorquollen.
    »Da hört sich doch alles auf«, rief Mr. Bumble, blieb stehen und runzelte wütend die Augenbrauen. »Von all den undankbarsten verdorbensten Waisenbuben, Oliver, die mir je untergekommen sind, bist du doch der schlimmste.«
    »Nein, nein, Sir«, schluchzte Oliver und klammerte sich wieder an die Hand, die den wohlbekannten Stock hielt. »Nein, nein, Sir, ich will ja brav sein, wirklich, ich will es. Ich bin ja noch so klein, Sir, und so – so –«
    »Was denn – so?« forschte Mr. Bumble erstaunt.
    »So einsam und verlassen, Sir, so schrecklich einsam«, schluchzte der Kleine. »Niemand kann mich leiden. Bitte, seien Sie nicht auch noch böse auf mich.«
    Dabei drückte er die Hand aufs Herz und blickte seinem Begleiter ins Gesicht, während Tränen tiefsten Schmerzes seine Augen füllten.
    Ein paar Sekunden lang betrachtete Mr. Bumble Olivers hilfeflehendes Gesicht voll Erstaunen, dann hüstelte er ein paarmal verlegen, murmelte ein paar Worte über das dumme Wetter und ermahnte ihn, ein guter Junge zu sein. Dann faßte er ihn wieder bei der Hand und ging schweigend mit ihm weiter.
    Der Leichenbestatter hatte eben seinen Laden geschlossen und machte gerade beim Schimmer einer Talgkerze einpaar Eintragungen in sein Kontobuch, als Mr. Bumble eintrat.
    »Aha«, rief er und blickte von dem Buche auf. »Sie sind es, Bumble.«
    »Jawohl, ich bin’s«, erwiderte der Kirchspieldiener. »Hier ist er. Ich habe Ihnen den Jungen mitgebracht.«
    Oliver machte einen Kratzfuß.
    »Also das ist der Junge, was?« fragte der Leichenbestatter und hielt die Kerze in die Höhe, um den Kleinen besser besichtigen zu können. »Liebe Frau, sei einmal so gut und komm einen Augenblick her.«
    Mrs. Sowerberry tauchte aus einem kleinen Zimmer hinter dem Laden auf, und auf den ersten Blick konnte man erkennen, daß sie eine kleine hagere Person mit zänkischem Gesichtsausdruck war.
    »Liebe Frau«, begann Mr. Sowerberry betreten, »das ist der Junge aus dem Armenhaus, von dem ich dir erzählt habe.« – Oliver machte abermals einen Kratzfuß.
    »Gott im Himmel«, rief die Frau, »ist der aber klein!«
    »Freilich, ein wenig klein ist er«, gab Mr. Bumble zu und sah Oliver mit einem strafenden Blick an, als ob dieser die Schuld daran trage, daß er nicht größer geworden sei. – »Klein ist er, das läßt sich nicht bestreiten. Aber er wird schon noch wachsen, Mrs. Sowerberry.«
    »Ja, ja auf unsre Kosten!« zankte die Frau verdrießlich. »Und bei dem, was bei uns auf den Tisch kommt. Ich kenne schon die Armenhauskinder, die fressen immer mehr, als sie wert sind. Aber die Männer wissen natürlich immer alles am besten. Marsch, die Treppe hinunter, du Häufchen Unglück!« Mit diesen Worten öffnete Mrs. Sowerberry eine kleine Tür und drängte Oliver eine steile Treppe hinab in einen feuchten finstern Keller, der den Vorraum zum Kohlenkeller bildete und die Bezeichnung Küche trug. Dortsaß ein schlumpiges Dienstmädchen mit Schuhen mit schiefen Absätzen und blauen Strümpfen voll großer Löcher, die offenbar schon seit langem auf Reparatur warteten.
    »Hier, Charlotte«, sagte Mrs. Sowerberry, »gib dem Jungen ein paar von den Resten, die für Trip aufgehoben worden sind. Seit morgens streunt das Biest auf der Gasse herum, da soll es sich mal hungrig zu Bett legen. Hoffentlich ist der Bursche da nicht zu heikel. He, Junge, was sagst du dazu?«
    Oliver, dessen Augen, als von Essen die Rede war, aufgeleuchtet hatten, zitterte förmlich vor Gier und
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