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Oliver Twist

Oliver Twist

Titel: Oliver Twist
Autoren: Charles Dickens
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drohenden Blick zu und fügte leise hinzu: »Vergiß nicht, was ich dir gesagt habe, infamer Lausbub.«
    Oliver machte bei dieser widerspruchsvollen Anrede ein ziemlich dummes Gesicht. Aber Mr. Bumble kam jeder Frage zuvor und schleppte ihn ohne weitere Umstände ins Amtszimmer. Es war ein ziemlich geräumiges Zimmer mit einem großen Fenster. Hinter einem Pult saßen zwei alte Herren mit gepuderten Perücken, und der eine von ihnen las in der Zeitung, während der andre mit Hilfe einer Schildpattbrilleein kleines Pergamentschriftstück durchstudierte. Mr. Limbkins stand neben dem Pult und Mr. Gamfield, dessen Gesicht stellenweise reingewaschen war, in einiger Entfernung neben ihm, während zwei bis drei roh aussehende Männer in Stulpenstiefeln im Hintergrund warteten.
    Der alte Herr mit der Brille nickte langsam über dem Schriftstück ein, und es verstrich eine ziemliche Weile, nachdem Oliver von Mr. Bumble vor das Pult geführt worden war.
    »Dies ist der Junge, Euer Gnaden«, sagte Mr. Bumble.
    Der alte Herr, der die Zeitung las, hob eine Sekunde den Kopf und zupfte den andern alten Herrn am Rockärmel, worauf dieser erwachte.
    »So, so, das ist der Junge«, murmelte der alte Herr.
    »Jawohl, zu dienen, Euer Gnaden«, erwiderte Mr. Bumble. »Mach dem Herrn Friedensrichter eine Verbeugung, mein Kind.«
    Oliver gehorchte und machte seinen schönsten Kratzfuß, da ihm die Herren mit den gepuderten Perücken mächtig imponierten.
    »Der Junge wünscht also Schornsteinfeger zu werden?« fragte der alte Herr.
    »Ja, es ist sein Herzenswunsch«, erklärte Mr. Bumble. »Er würde bestimmt morgen wieder davonlaufen, wenn wir ihn heute in ein andres Geschäft gäben.«
    Der Friedensrichter wendete sich an den Schornsteinfegermeister: »Und Sie versprechen, ihn gut zu behandeln, ordentlich zu nähren und zu kleiden usw. usw.«
    »Was i amal sag, dös halt i a«, erwiderte Gamfield mürrisch.
    »Sie haben eine etwas ungeschliffene Redeweise, lieber Freund, scheinen aber sonst ein ehrlicher gutherziger Mann zu sein«, sagte der alte Herr und richtete seine Brille aufden Schornsteinfegermeister, auf dessen schurkischem Gesicht die Brutalität deutlich zu lesen war. Der alte Herr war halb blind und schon ganz kindisch, und man konnte von ihm daher nicht erwarten, daß er erkenne, was andern auf den ersten Blick auffallen mußte.
    »Dös will i hoffen, Herr von Vorstand«, sagte Gamfield grinsend.
    »Ich setze nicht den mindesten Zweifel in Ihre Worte, mein Freund«, erwiderte der alte Herr, drückte sich die Brille fester auf die Nase und fahndete nach dem Tintenfaß.
    Es war ein kritischer Augenblick in Olivers Schicksal: hätte das Tintenfaß dort gestanden, wo es der alte Herr vermutete, so würde dieser seine Feder eingetaucht und den Vertrag unterfertigt haben, und Oliver wäre ein für allemal »versorgt« gewesen. Da sich das Tintenfaß jedoch dicht vor der Nase des alten Herrn befand, übersah es dieser natürlich, suchte überall auf dem Pult herum, ohne es zu finden, und dabei fiel sein Blick auf das bleiche verstörte Gesicht Oliver Twists, der trotz aller Ermahnungen und Püffe Mr. Bumbles das Äußere seines zukünftigen Lehrherrn mit einem aus Grauen und Furcht gemischten Ausdruck betrachtete.
    Der alte Herr hielt sofort inne, legte die Feder aus der Hand und blickte von Oliver zu Mr. Limbkins, der mit unbefangener heiterer Miene eine Prise Schnupftabak zu nehmen versuchte.
    »Liebes Kind!« sagte der alte Herr und lehnte sich über das Pult. Oliver fuhr beim Klang seiner Stimme zusammen, denn die Worte waren in so freundlichem Tone gesprochen, daß sie ihn befremden mußten. Er zitterte heftig und brach in Tränen aus.
    »Aber Kind«, rief der alte Herr. »Du siehst ja ganz bleich und verstört aus? Was ist dir denn?«
    »Treten Sie ein wenig von ihm weg«, sagte der andre alte Herr, legte sein Schriftstück aus der Hand und beugte sich mit einem Ausdruck tiefer Teilnahme vor.
    »Also, mein Kind, sag uns, was dir fehlt. Hab keine Furcht.«
    Oliver fiel auf die Knie, erhob seine gefalteten Hände und flehte schluchzend, man möge ihn lieber wieder in das dunkle Zimmer zurückbringen und ihn verhungern lassen, ihn schlagen, ihn totschlagen, alles, nur ihn nicht jenem schrecklichen Mann übergeben.
    »Ha«, rief Mr. Bumble, hob feierlich die Hände empor und blickte zur Decke auf. »Von allen verstockten niederträchtigen Waisenjungen, die mir je untergekommen sind, ist dieser der verworfenste von
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