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Oliver Twist

Oliver Twist

Titel: Oliver Twist
Autoren: Charles Dickens
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Staunen starrte er einige Sekunden den kleinen Rebellen an und mußte sich am Kessel festhalten, um nicht umzufallen. Die beiden Frauenzimmer waren geradezu gelähmt vor Entsetzen, und auch die Jungen konnten vor Furcht kein Wort hervorbringen.
    »Was?« fragte der Koch endlich mit schwacher Stimme.
    »Ich bitte, Herr«, wiederholte Oliver, »ich möchte noch etwas haben.«
    Der Koch gab ihm eins mit dem Löffel über den Kopf, faßte ihn dann am Arm und schrie laut nach dem Kirchspieldiener.
    Die Herren Vorstände saßen gerade zusammen bei einer Beratung, als Mr. Bumble in höchster Erregung ins Zimmer stürzte und dem Herren auf dem hohen Stuhl meldete:
    »Mr. Limbkins, ich bitte um Verzeihung, Sir, Oliver Twist hat mehr zu essen verlangt.«
    Alles fuhr auf. Entsetzen malte sich auf allen Gesichtern.
    »Mehr?« rief Mr. Limbkins. »Kommen Sie zu sich, Bumble! Antworten Sie mir klar und deutlich. Verstehe ich recht? Er hat mehr gefordert als die ihm von der Vorstandschaft festgesetzte Ration?«
    »Jawohl, Sir.«
    »Der Bursche kommt noch an den Galgen«, ächzte der Gentleman mit der weißen Weste. »Denken Sie an mich, der Bursche kommt noch an den Galgen.«
    Niemand widersprach, und es entspann sich eine lebhafte Diskussion. Auf Befehl der Vorstandschaft wurde Oliver augenblicklich eingesperrt, und am nächsten Morgen hing ein Anschlagzettel an der Außenseite des Tores des Arbeitshauses, auf dem eine Belohnung von fünf Pfund ausgesetzt war für jeden, der die Gemeinde der weiteren Fürsorge für Oliver Twist enthöbe; mit anderen Worten: es wurden fünf Pfund jedermann angeboten, der Oliver Twist als Lehrling oder Laufbursche zu sich nähme.
    »In meinem ganzen Leben war ich noch von nichts so fest überzeugt«, sagte der Gentleman mit der weißen Weste, als er am nächsten Morgen an das Tor klopfte und den Zettel las, »wie ich jetzt davon überzeugt bin, daß der Bursche noch einmal an den Galgen kommen wird.«

DRITTES KAPITEL
    berichtet, wie Oliver Twist beinahe eine Anstellung bekommen hätte, die nichts weniger als eine Sinekure gewesen wäre
     
    Eine Woche lang blieb Oliver nach seiner Missetat in dem finstern Raum, in den ihn die Herren Vorstände hatten sperren lassen, in Haft. Hätte er den gehörigen Respekt vor der Prophezeiung des Gentlemans mit der weißen Weste gehabt, würde er sich zweifellos vermittels eines Taschentuches an einem Haken in der Mauer aufgehängt haben. Aber dazu fehlte ihm vor allem ein Taschentuch – ein solcher Luxus war strenge verpönt –, und zweitens war er noch zu sehr Kind. Er weinte daher nur Tag und Nacht und bedeckte sich mit seinen kleinen Händen die Augen, um nicht in die Finsternis starren zu müssen, oder er kroch in einen Winkel und versuchte zu schlafen. Aber jedesmal fuhr er wieder vor Angst und Entsetzen aus seinem unruhigen Schlummer auf und drückte sich noch dichter an die Mauer, als böte ihm selbst ihre harte kalte Fläche noch ein wenig Schutz gegen die Finsternis und Einsamkeit, die ihn rings umgab.
    Um gerecht zu sein, dürfen wir nicht verschweigen, daß es ihm andererseits an Bewegung und geistlichem Zuspruch nicht fehlte. Was die Leibesübungen betraf, wurde ihm angesichts des kalten Wetters, das gerade herrschte, die Vergünstigung zuteil, sich jeden Morgen unter der Pumpe in einem gepflasterten Hof waschen zu dürfen, und zwar in Gegenwart Mr. Bumbles, der durch wiederholte Anwendung seines Amtsstabes eventuellen Erkältungen vorbeugte und bewirkte, daß von Zeit zu Zeit ein prickelndes Gefühl Olivers Körper durchdrang. Was die Anregung anbelangte, wurde er jeden zweiten Tag in den Saal geführt, wo die Zöglingeihr Mittagessen verzehrten, und vor ihren Augen als warnendes Beispiel öffentlich ausgepeitscht. Hinsichtlich religiösen Zuspruchs wurde er Abend für Abend zur Gebetstunde mit Fußtritten in denselben Raum befördert und durfte dort zuhören, wie die anderen beteten, daß Gott sie bewahren möge, so sündhaft zu werden wie ein gewisser Oliver Twist. So standen die Sachen.
    Da begab es sich eines Morgens, daß der Schornsteinfegermeister Mr. Gamfield auf der Landstraße langsam seines Weges zog. Tief in Gedanken, woher er sich seine Hausmiete, derentwegen er bereits wiederholte Male gemahnt worden, sich beschaffen solle. Sosehr sich Mr. Gamfield auch den Kopf zerbrach, immer wieder war das Resultat, daß ihm fünf Pfund fehlten, um die dringende Schuld begleichen zu können. In diesem Augenblick bemerkte er den Zettel, der am Tor
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