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Oliver - Peace of Mind

Oliver - Peace of Mind

Titel: Oliver - Peace of Mind
Autoren: Nicole Schroeter
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ich los.
    Im Radio ist jedes Lied das Falsche. Immer wieder laufen mir Tränen durchs
Gesicht. Ich nehme die Sonnenbrille aus dem Handschuhfach, obwohl ich nur grau
sehe. Noch einmal abbiegen, dann sehe ich das Haus: hoch und viel Glas.
Irgendwie teuer. Direkt an der Elbe. Weit hat sie es gebracht.
     
    Ich parke an der Straße, putze mir zum hundertsten Mal die Nase und suche
den Eingang C. Ein Fahrstuhl bringt mich in den vierten Stock. An der Wand
hängt ein Spiegel. Ich stelle mir vor, dass Olli schon oft mit diesem Fahrstuhl
gefahren ist, und als die Türen sich öffnen und Betty mit ausgebreiteten Armen
vor mir steht, habe ich mein Heulen schon wieder nicht mehr unter Kontrolle.
     
    Betty hält mich im Arm, bis ich mich beruhigt habe. „Du hast Dich überhaupt
nicht verändert“, schluchze ich und versuche dabei ein Lachen. „Na Du! So ein
Quatsch. Ich bin total faltig geworden“, lacht sie mich mit ihrer rauen Stimme
aus.
    „Dafür bin ich dicker geworden. Dann bleibt die Haut länger straff“,
versuche auch ich einen Scherz. Im Grunde ist es mir egal. Ihr Anblick und ihre
Stimme katapultieren mich augenblicklich achtundzwanzig Jahre nach hinten:
Betty, die abends geschafft von der Arbeit nach Hause kommt, die laut mit ihren
großen Jungs schimpft, weil sie die Katzen noch nicht gefüttert haben, oder
weil das Bad mal wieder blockiert ist. Dann erst mal aufs Sofa setzen und eine
rauchen.
     
    Sie führt mich den Gang entlang zu ihrer offenen Wohnungstür, wo mich ein
weiteres Mal ein Messer mitten ins Herz trifft: Schon im Flur schauen mich
braune Augen im Großformat an. Augen, die einst mich angesehen haben, als ich
sie für die Ewigkeit habe festhalten wollen.
    Hier endlich ist Bettys Trauer allgegenwärtig. Ihr Sohn Oliver ist
einfach überall. Von allen Wänden aus schaut er uns an, von jedem Tischchen,
von jeder Kommode. Eins der Fotos als Tattoo über ihrem Herzen. Ich bin
unfassbar traurig, doch was ich hier sehe, erschlägt mich.
     
    Bettys Wohnung hat zwei Zimmer. Ein gemütliches Schlafzimmer voller
Stofftiere und Olivers und ein großes sehr stilvoll eingerichtetes Wohnzimmer. Alle
Zimmer haben eine große Fensterfront, die den direkten Blick auf den Hafen
erlaubt. Wunderschön auch ein kleiner Erker. Alles aus Glas, wie ein
Wintergarten. „Hier hat er oft am Fenster gestanden“, erzählt sie mir. „Wenn
die abfahrenden Dampfer getutet haben, hat er dort gestanden, den Arm gehoben
und laut gerufen: „Ich komme!“ Ich versuche mir vorzustellen, wie mein großer
Olli dort gestanden hat, aber der Platz bleibt leer.
     
    Betty bietet mir einen Platz auf dem Sofa an. Während sie den Tee
zubereitet, sehe ich sie an. Sie ist noch immer blond. Noch immer hat sie eine
super Figur. Die hatte sie damals schon. Zwei Jungen hat sie geboren. Beide
mehr als 1,90 Meter groß. Ihrer Figur hat das keinen Abbruch getan. Sie ist
eine Powerfrau. Fast siebzig Jahre alt, aber immer noch kann sie keine Minute
still sitzen. Immer in Aktion, immer putzen, machen, organisieren.
    „Wenn ich nichts tue, dann fange ich an zu denken“, sagt sie. „Das will
ich nicht!“
     
    Während wir Tee trinken, schauen wir die Fotoalben an. Fast alle meine
Fotos hat sie. Nur das eine nicht: Das schönste Foto, das, wo Olli und ich
unsere Köpfe ganz dicht zusammenhalten und er, weil sein Arm der längere war,
den Apparat ganz weit weggehalten hat, um uns beide auf das Bild zu bekommen. So
ein schönes Foto.
    Leider besitze ich nur noch meine Seite des Fotos. Seine Seite wurde
abgerissen. Dennoch sehe ich, wie glücklich ich damals aussah.
     
    Ich sehe das Foto, auf dem er stolz sein selbst gebautes Modellmotorrad
präsentiert. Es war eine weiße MTX, eine Crossmaschine. Er hat extra eine
Bremsspur imitiert für das Foto. Ich hatte es vergessen und muss weinen.
    Betty reicht mir ein Taschentuch. „Bitte, Betty“, schluchze ich ins
Taschentuch. „Bitte darf ich das Album mitnehmen? Ich möchte mir die Fotos
einscannen. Ich muss sie wiederhaben. Bitte!“ „Na klar“, ist alles, was sie
sagt, und legt es mir hin, bevor sie nach dem nächsten greift.
    Ich sehe Babyfotos, Kinderbilder, Weihnachten, Urlaube und sein
Einschulungsfoto. Sogar sein Kinderausweis ist dabei. Es tut so gut, gemeinsam
zu trauern.
     
    Im letzten Album sehe ich ihn als jungen Mann. Er hat eine andere junge
Frau gefunden. Ich erkenne sie wieder. Sie ist blond, wie Betty und hat immer
lange und erfolglos vor meinem Fenster eingeparkt, bevor sie ihn
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