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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
Autoren: dtv
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totenstill in der weißen Welt um sie her. Keine Sirenen, kein Klirren von Spitzhacken, keine Geschütze. Mit einem Gefühl der Scham – weil sie für eine Weile vergessen hatte, dass ihr Vater und Serjoscha gestorben waren – starrte Nadja in den Schnee. Einen Augenblick lang sah es aus, als ob sie weinen wolle.
    Später, wenn der Krieg vorüber war, wollte er Nadja heiraten, dachte Oleg. Dann würde er dafür sorgen, dass sie niemals wieder bekümmert auszusehen brauchte. Was konnte er nur jetzt sagen, damit das Zittern ihrer Lippen aufhörte?
    »Ich habe auch oft Angst«, sagte er leise und fing an, Nadja von seinen Träumen zu erzählen. Nun würde sie sofort begreifen, weshalb er an der Brücke so lange gezögert hatte.
    Nach Worten suchend bemühte er sich, ihr zu erklären, wie die Lastwagen im Zickzack über den Ladogasee fuhren, um den Waken zu entgehen. Schwieriger, viel schwieriger war es, ihr klarzumachen, weshalb dieses Wasserungeheuer jedes Mal angeschwommen kam, wenn er Angst fühlte. Das klang verrückt, wenn man es erzählte.
    »Ein Wassertier?«, fragte Nadja ungläubig. Dann lachte sie auf. »Was ist schon ein Wassertier?« Oleg lachte mit. Er versuchte ihr zu erklären, wie dieses ungeheuerliche Wesen mit seinen gewaltigen Flossen aussah. »Es hat große vorquellende Augen und ein zuschnappendes Maul mit kleinen, messerscharfen Zähnen.«
    »Du spinnst!«, sagte Nadja. Sie gab ihm einen kleinen Schubs und lachte wieder.
    »Aber es ist wirklich so«, murmelte Oleg. Weil er fürchtete, Nadja würde ihn kindisch finden, holte er die Pistole aus der Tasche. Da machte Nadja wirklich große Augen!
    »Wie bist du darangekommen?« Ihre Stimme klang geradezu ehrfürchtig.
    »Die hat meinem Vater gehört.«
    »Sind Kugeln drin?«
    Oleg schüttelte den Kopf. »Noch nicht.« Später, wenn er Soldat wäre, würde er die Deutschen damit erschießen. Er streckte den Arm aus, zielte und zog den Abzug durch.
    »Pengpeng . . . peng!«
    Er wollte sie alle erschießen, denn sie waren an allem schuld: dass sein Vater tot war, dass er von diesem schrecklichen Wassertier träumte, dass seine Mutter so krank war. Sie waren die Ursache, dass Hunderte von Häusern in Schutt und Asche lagen und dass Stipolew aus seinem Haus geholt und erschossen worden war – nur weil er besonders gut für seine Frau und die drei kleinen Töchter hatte sorgen wollen. Und ganz besonders hasste Oleg die Deutschen, weil Nadja vorhin so betrübt ausgesehen hatte.
    »Wenn ich Angst habe, schreibe ich in mein Tagebuch«, sagte Nadja.
    »Hilft das?«
    »Manchmal.«
    Oleg starrte in die Ferne. Er fand es gut, ein Tagebuch zu haben. Dahinein konnte man Dinge schreiben, die man sich niemals trauen würde auszusprechen.
    »Wir müssen weiter«, sagte Nadja. Beim Sitzen war ihr kalt geworden, und als sie aufstand, fröstelte sie.
    Jetzt war es Oleg, der Nadja die Hand hinstreckte und sie mit sich zog. Schon bei den ersten Schritten spürte er, wie die Hose wieder schmerzhaft über die wunde Stelle an seinem Schenkel scheuerte.
    Hand in Hand gingen sie durch die stille weiße Welt, aber sie kamen langsamer voran als vorher. Die Bäume hoben sich als kleine graue Striche gegen den Horizont ab.
    »Es ist nicht mehr weit!«, sagte Oleg tapfer.

6
    Schritt für Schritt. Einmal mussten sie doch hinkommen! Aber es ging langsam, viel zu langsam. In drei Viertelstunden waren sie nur wenig vorangekommen. Die Bäume, die Nadja Oleg während der Rast gezeigt hatte, blieben gleich weit in der Ferne stehen. Oleg fing an, sich Sorgen zu machen.
    »Ob wir vor Dunkelheit zurück sein können?«
    Nadja gab keine Antwort. Vielleicht fand sie, dass es eine dumme Frage sei. Oder ob sie zu müde zum Sprechen war? Während der letzten halben Stunde hatte sie nicht ein Wort gesagt. Sie starrte ständig schweigend vor sich hin. Ob sie an ihren Vater und an Serjoscha dachte?
    Schritt für Schritt. Und bei jedem Schritt nahm Olegs Unruhe zu. Wie sollte das nur auf dem Rückweg werden, wenn jeder noch einen Sack Kartoffeln schleppen musste?
    Er versuchte, eine Zeit lang ununterbrochen auf den Boden zu schauen. Vielleicht würde dann die Baumreihe als Überraschung ganz nahe sein, wenn er aufblickte. Doch als er endlich den Kopf hob, standen die Bäume immer noch als dünne, graue Striche am Horizont.
    Schritt für Schritt. Nadja stolperte. Sie wäre bestimmt gefallen, wenn Oleg ihre Hand nicht festgehalten hätte. Er fing an, sie ein bisschen zu ziehen, aber sie strauchelte
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