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Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman
Autoren: dtv
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aufs Neue. Ob das an den zu großen Stiefeln von Serjoscha lag, dass sie solche Schwierigkeiten beim Gehen hatte? Sie blieben eine Weile stehen. Nadja griff sich an den Kopf.
    »Wollen wir uns ein bisschen ausruhen?«, fragte Oleg. Sie antwortete nicht. Weil die Baumreihe noch weit entfernt war, ging Oleg weiter. Es kostete ihn jetzt schon Mühe, Nadja mitzuziehen. Vielleicht war es doch besser, sich wieder eine Weile in den Schnee zu setzen, um Kraft für das letzte Stück zu sammeln. Er wollte das gerade vorschlagen, als Nadjas Hand ausder seinen glitt. Erschrocken blickte Oleg auf. Was tat sie denn jetzt? Nadja schwankte, als ob sie Mühe hätte, das Gleichgewicht zu halten. Ein paarmal schwankte sie noch so hin und her, dann sank sie lautlos in den Schnee.
    Im nächsten Augenblick kniete Oleg neben ihr.
    »Nadja! Nadja!« Er schrie ihren Namen, schüttelte sie in panischer Angst, doch sie bewegte sich nicht. Ihre Augen waren halb geschlossen.
    »Nadja, bitte! Hör doch!« Sie konnte sich doch nicht einfach hier hinlegen! Das ging doch nicht!
    Der Wind fegte ungestüm über den Boden und blies ihr Schnee in die Haare. Oleg versuchte, Nadja aufzuheben. Schreckliche Angst überfiel ihn. Nadja würde doch nicht sterben, genau wie dieser alte Mann, der auf dem Trümmerhaufen zusammengebrochen war? Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein.
    »Nadja, Nadja . . .« Er sagte es jetzt leise und bittend. Nadja, die so mutig war und die wusste, wo die Kartoffeln lagen, durfte nicht sterben!
    Zu seiner großen Erleichterung sah er, wie sich ihre Lippen bewegten. Nadja murmelte etwas, doch was es war, konnte Oleg nicht verstehen . . .
    Der Horizont mit den grauen Baumreihen verschwand – die weiße Erde war wie eine Buchseite, die umgeschlagen wird.
    Weit, sehr weit weg erklang Olegs Stimme. Sie würde ihm gleich antworten. Aber erst musste sie liegen – liegen und ein wenig schlafen. Sie konnte nicht mehr. Undeutlich spürte sie, wie Oleg seinen Arm um sie schlang. Aber sie konnte ihm nicht danken, denn die Umwelt um sie her wurde immer kleiner. Schwarze Flecken tanzten durch ihre Gedanken. Da war ihre Mutter, die auf dem Herd Piroggen * buk. Goldbraun zischte das Gebäck in der schwarzen Pfanne. Da stand ihr Vater und seine braunen Augen lachten. Sie gingen an der Newa spazieren und Serjoscha hatte ihr seinen Ballon geschenkt . . . Da war Stipolews großer Hund, der ihre Flickenpuppe geschnappt hatte und damit wegrannte.
    Immer tiefer versank sie in ihre Erinnerungen. Es gab keinen Oleg mehr, mit dem sie Kartoffeln holen musste, kein sterbendes Leningrad, keine Rübensuppe, die langsam im Schnee versickerte!
    Die schwarzen Flecken, die durch ihre Erinnerungen tanzten, wurden immer größer.
    »Nadja!« Oleg hatte seinen Mantel aufgeknöpft und den Jutesack hervorgeholt. Er bemühte sich, den Sack unter Nadjas Rücken zu schieben, doch es ging nur schwer.
    Was sollte er tun? Ratlos sah er sie an. Sie konnte doch nicht im Schnee liegen bleiben. Er zerrte den Jutesack noch ein Stück weiter unter sie und deckte sie wieder mit den Vorderteilen ihres Mantels zu, die der Wind immer wieder hochwehte. Was konnte er sonst noch für sie tun?
    Oleg überlegte. Er spürte, dass Nadjas Leben oder Tod jetzt von ihm abhing. Sollte er versuchen, sie zur Stadt zurückzutragen? War er dazu imstande?
    »Nadja! Hör doch, Nadja!« Wenn er sie wenigstens fragen könnte, was er tun solle. Doch Nadja rührte sich nicht. Vielleicht war es das Beste, Hilfe zu holen. Er konnte Nadja so lange mit seinem Mantel zudecken und dann versuchen, irgendwo in der Gegend Hilfe zu finden. Er richtete sich auf, blieb jedoch, vor Schreck erstarrt, halb aufgerichtet stehen. Er traute seinen Augen nicht und doch war es so: Neben sich im Schnee sah er einen Stiefel! Darüber das Feldgrau einer Uniformhose und den Saum eines weißen Umhangs. Mit hämmerndem Herzen richtete Oleg den Blick langsam höher. Es war kein Zweifel möglich. Über einem Arm lag das Gewehr, die Hand am Abzug. Und darüber? Voller Angst schaute Oleg in das Gesicht eines deutschen Soldaten.
    Einen Augenblick lang war sein Denken gelähmt. Schließlich wagte er es, den Deutschen anzusehen. Was sollte er tun, um Nadja und sich selbst zu schützen? Dem feindlichen Soldaten an die Kehle springen – um all seine Angst, seinen Kummer, seinen Hass an diesem großen Mann auszulassen? Er wusste, dass er ohne jede Chance war.
    Der Soldat ließ sein Gewehr sinken. Oleg krümmte sich zusammen. Sollte
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